Schwanengesang (German Edition)
Sie doch ganz genau, sonst wären Sie nicht hier.«
Marc tat, als hätte er die Bemerkung nicht gehört. »Sie sollen sogar Morddrohungen gegen Heinen ausgestoßen haben.«
»Ah, daher weht der Wind. Sie glauben, ich hätte ihn erschlagen und irgendwo verscharrt.«
Marc beschloss, alles auf eine Karte zu setzen. »Haben Sie?«
Scarpetta fixierte Marc. »Ja, habe ich.« Unwillkürlich hielt Marc die Luft an.
»In meinen Gedanken, mindestens tausendmal«, fuhr Scarpetta fort. »Ich habe ihm seine arrogante Lügenfresse poliert und ihn dann mit einer Axt in kleine Stücke zerhackt. Ganz langsam bei lebendigem Leibe. Er sollte genauso leiden wie Jennifer gelitten hat.«
»Aber waren es nicht Sie und Ihre Frau, die die Chemotherapie abgebrochen haben und Jennifer zu Heinen in Behandlung gegeben haben?«
»Ja, das haben wir«, gab Scarpetta zu und seine Augen wurden wieder feucht. »Das war der größte Fehler meines Lebens. Aber meine Frau wollte es unbedingt. Nach dem Beginn der Chemo ging es Jennifer schlechter als je zuvor. Irgendwann konnte meine Frau ihr Leiden nicht mehr mit ansehen und hat sich an Heinen gewandt. Sie hatte ihr Vertrauen in die Schulmedizin verloren und von diesem Arzt und seiner neuen Heilmethode in der Zeitung gelesen.« Die Asche der Zigarette war immer länger geworden und fiel jetzt auf den Teppichboden. Scarpetta schien es nicht zu stören, denn er redete einfach weiter.
»Heinen hat sich mit Jennifer unterhalten und sie untersucht. Er hat sich bereit erklärt, sie zu behandeln, aber nur unter der Voraussetzung, dass die Chemotherapie sofort abgebrochen wird und er Jennifer als einziger Arzt weiterbehandeln darf. Meine Frau war sofort einverstanden, ich war noch skeptisch. Doch Heinen hat es geschafft, mich zu überzeugen. Er hat gesagt, es sei zu einhundert Prozent sicher, dass meine Tochter geheilt werden könne. Und er hat mir Statistiken gezeigt, denen zufolge achtzig Prozent der Onkologen an sich selbst niemals eine Chemotherapie durchführen lassen würden. Und dann wollte ich meine Tochter diesem Schwachsinn aussetzen? Ich habe anschließend auch noch mal mit den Schulmedizinern gesprochen. Die haben Jennifer bei einer Fortführung der Chemo eine Chance von fünfzig Prozent gegeben. Haben Sie Kinder?«
Er wartete Marcs Nicken ab, bevor er weitersprach. »Wie hätten Sie sich entschieden, wenn der eine Arzt sagt, die Heilungschance liege bei nur fünfzig Prozent, während Ihnen der andere Arzt eine Heilung garantiert?«
Marc ließ sich mit seiner Antwort lange Zeit. »Ich weiß nicht, was ich in Ihrer Situation getan hätte«, sagte er dann.
»Ich wusste es auch nicht. Aber irgendwann musste ich eine Entscheidung treffen, und zwar für Heinen. Heinen hat meine Tochter sofort von allen anderen Ärzten abgeschirmt und mit seiner Behandlung begonnen. Zuerst sah auch alles hervorragend aus. Auf den neuen Röntgenbildern waren der Tumor und die Metastasen tatsächlich verschwunden. Doch ganz plötzlich ging es Jennifer wieder schlechter, und damit begann der juristische Krieg. Man hat versucht, uns das Sorgerecht für Jennifer zu entziehen. Wir mussten um sie kämpfen. Dann hat sich Jennifers Zustand noch weiter verschlechtert und schließlich ist sie gestorben. Heinen hat behauptet, sie sei durch Behandlungsfehler der Schulmediziner gestorben, er habe den Krebs geheilt. Aber mehrere Rechtsmediziner haben festgestellt, dass der Krebs die Todesursache war. Dann wurde auch noch ein Ermittlungsverfahren gegen meine Frau und mich wegen Körperverletzung eingeleitet, weil wir entgegen der Empfehlung der Ärzte eine Schmerztherapie abgelehnt haben. Dabei wollten wir doch nur das Beste für unsere Tochter!«
»Wo ist Ihre Frau?«, wagte Marc zu fragen.
»Nicht mehr hier. Wir sind geschieden. Ich habe irgendwann eingesehen, dass wir einem Scharlatan aufgesessen sind, aber meine Frau hält bis heute daran fest, alles richtig gemacht zu haben. Wahrscheinlich würde sie sonst daran zerbrechen. Ich hatte damals nur noch den einen Gedanken, Heinen zur Rechenschaft zu ziehen. Ich habe ihn mehrfach verklagt, aber es hat alles nichts gebracht. Ich glaube, einige Prozesse laufen immer noch, aber das interessiert mich jetzt nicht mehr.«
»Aber es gab mal eine Zeit, in der es Sie sehr interessiert hat, nicht wahr? Sie haben Heinen sogar vor seinem Haus aufgelauert und ihn bedroht.«
»Ja, aber das ist lange her. Ich habe mich damit abgefunden, dass es in diesem Leben keine Gerechtigkeit gibt.
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