Schwanengesang (German Edition)
Haustür zu. Er hatte wohlweislich keinen Termin vereinbart, weil er das Überraschungsmoment nutzen wollte. Vielleicht verleitete es das Hausmädchen zu einer unbedachten Bemerkung.
Marc schellte. Wenige Sekunden später riss Yvonne die Tür auf. Das Strahlen auf ihrem Gesicht wich Verwunderung, als sie Marc erkannte. Sie hat jemand anderen erwartet, folgerte Marc.
»Erinnern Sie sich an mich?«, fragte er schnell, um Yvonne keine Zeit für eine Reaktion zu geben. »Mein Name ist Hagen. Ich war schon einmal hier zu Besuch.«
»Äh, … ja … natürlich, aber außer mir und den Handwerkern ist niemand mehr da.«
Marc zeigte sein wärmstes Lächeln. »Das trifft sich gut. Genau mit Ihnen wollte ich nämlich reden.«
Yvonne riss ihre großen Augen vor Erstaunen noch weiter auf. »Mit mir?«
»Ja, mit Ihnen. Wenn Sie nichts dagegen haben, können wir uns vielleicht drinnen weiter unterhalten.«
Marc trat einen Schritt vor, aber Yvonne wich nicht einen Millimeter zur Seite.
»Ich darf niemanden reinlassen«, sagte sie bestimmt und warf einen verstohlenen Blick auf ihre Armbanduhr.
»Sagt wer?«, fragte Marc.
»Der neue Eigentümer des Hauses.«
»Und der wäre?«
»Herr Rottmann.«
Marc nickte verstehend. »Was ist aus den anderen Hausangestellten geworden?«
»Außer mir sind alle weg«, erwiderte Yvonne. »Ich soll hier nach dem Rechten schauen, bis Herr Rottmann mit seiner Familie einzieht. Und ich darf niemanden reinlassen«, wiederholte sie zur Sicherheit noch einmal.
»Schön«, sagte Marc bestimmt. »Wir können uns auch gerne hier draußen unterhalten.«
Yvonne blickte erneut auf ihre Armbanduhr. »Eigentlich habe ich gar keine Zeit«, sagte sie nervös.
»Geht ganz schnell«, versuchte Marc sie zu beruhigen. »Je eher Sie meine Fragen beantworten, desto schneller bin ich wieder verschwunden.«
Yvonne seufzte. »Also gut. Aber nur, wenn es wirklich nicht lange dauert.«
»Fünf Minuten«, versprach Marc. »Yvonne, wie lange waren Sie bei Frau Reichert beschäftigt?«
Das Hausmädchen richtete den Blick zum Himmel, als erfordere die Frage angestrengtes Nachdenken. Als das nicht ausreichte, nahm sie die Finger ihrer linken Hand zur Hilfe. »Vier Jahre«, verkündete sie schließlich.
»Und Sie sind hier durch Vermittlung Ihres Großvaters?«
Yvonne nickte.
»Und weil Frau Reichert sich für den Verein Wider das Vergessen der Aktion T4 interessiert hat.«
Yvonne starrte ihn ausdruckslos an. »Wegen was?«
»Aktion T4«, wiederholte Marc langsam und jede Silbe einzeln betonend. »Sagt Ihnen das nichts?«
Yvonne schüttelte den Kopf.
»Aber Sie wissen, dass Ihr Großvater stellvertretender Vorsitzender eines Vereins ist, der von Frau Reichert sehr viel Geld geerbt hat?«
Erneutes Kopfschütteln, diesmal begleitet von einem unbeteiligten Schulterzucken.
Marc musterte sie lange, bevor er seine nächste Frage stellte. »Wie war Ihre Arbeit bei Frau Reichert denn so? Als Sie hier angefangen haben, war sie doch noch nicht krank, oder?«
Sofort hellte Yvonnes Miene sich auf. Offenbar war sie froh, endlich wieder eine Frage beantworten zu können. »Nein, krank war sie nicht. Aber sie hat sich immer so gefühlt.«
»Können Sie das etwas genauer beschreiben?«
»Klar. Sie dachte immer, dass sie krank wäre. Einmal, vor zwei Jahren oder so, hatte sie Kopfschmerzen, aber sie war davon überzeugt, sie hätte einen Hirntumor. Mann, da war vielleicht was los! Sie war bestimmt in zehn Krankenhäusern. Und hier im Haus waren auch dauernd Ärzte. Hinterher hat sie sich immer über die beschwert. ›Die sind alle unfähig‹, hat sie gesagt. ›Niemand kann mir helfen. Niemand findet was.‹ Dabei hatte sie gar nichts.«
»Woher wissen Sie das?«
»Ich habe mal zwei Ärzte belauscht. Die haben gesagt, dass Frau Reichert vollkommen gesund ist, und sich die schlimmsten Krankheiten einbildete.«
»Frau Reichert war also hypochondrisch veranlagt?«, vergewisserte sich Marc.
Yvonne starrte ihn irritiert an. »Nein, sie war ganz gesund, das habe ich doch gerade gesagt. Sie hat nur immer gedacht , dass sie krank ist. Sie hatte panische Angst vor Krankheiten und vor Schmerzen. Und vor dem Tod natürlich auch.«
»Hat Frau Reichert Ihnen gegenüber jemals erwähnt, dass sie sich selbst töten will?«
»Als sie sich mal wieder so schlecht gefühlt hat, hat sie mir gesagt, am liebsten würde sie sich umbringen und dann einfrieren lassen. In hundert Jahren oder so, wenn alle Krankheiten geheilt werden
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