Schwartz, S: Blutseelen 1: Amalia
übermächtig. Sie fühlte sich wie ein Lamm unter Wölfen.
Sie stellte das leere Glas auf das Tablett einer Kellnerin.
„Ich mag solche Veranstaltungen nicht, Aurelius. Leider musste ich oft genug die Erfahrung machen, dass hinter diesem aristokratischen Getue nichts bleibt.“
Aurelius legte tröstend seinen Arm um ihre Hüfte. „Es sind nicht alle so. Warum gibst du der Sache nicht einfach eine Chance?“
„Vielleicht geht es mir besser, wenn ich etwas gegessen habe.“ Sie spürte den Sekt, der ihr zu Kopf stieg.
„Dann komm mit. Kümmern wir uns zuerst um deinen Hunger.“ Aurelius zog sie von Grace und Darion fort in einen großen Saal, an dessen linker Seite ein langes Bankett aufgebaut war. Die Speisen sahen in der Tat erlesen aus. Hauptsächlich waren es Vorspeisen wie Röllchen aus Frischkäse mit Gewürzen und Kräutern, Käsehäppchen und kleine Fleischbällchen. Sie waren kunstvoll auf silbernen Platten und Ständern drapiert. Frische Rosen und stilvolle Obstkörbchen rundeten das Bild ab.
„Das ist so wenig.“ Amalia wies auf die kleinen Portionen. „Wenn die Gäste hier alle Hunger haben, dann …“ Sie verstummte. Vor ihr stand eine Frau in der weißen Gewandung einer Priesterin, die sie aus schwarzen Augen unverwandt anstarrte. Goldene Bänder zierten ihre Arme. Der weiße Stoff war so dünn, dass sie darunter die dunkelbraunen Brustspitzen der Fremden erahnen konnte.
Verblüfft starrte Amalia die Frau an. Ihr Aufzug unterschied sich fundamental von dem der anderen Besucher und doch wirkte sie authentisch. Sie hatte volle Lippen und hohe, hauchdünn gezupfte Augenbrauen. Die Nase war lang und gerade. Etwas an diesem Gesicht wirkte griechisch.
„Willkommen.“ Die Fremde nickte ihr zu und schloss Aurelius in die Arme, als würde sie ihn ewig kennen.
Aurelius erwiderte die Umarmung und Amalia spürte einen leisen Stich. Ob er gut mit ihr befreundet war? Sie schüttelte den Kopf und musste lächeln. Sie verlangte von einem Mann, keine Eifersucht zu kennen und fühlte sich bedroht, kaum dass Aurelius ihr eine Freundin vorstellte. Es musste an ihm liegen. Sie war nie einem Mann begegnet, den sie so sehr haben wollte wie ihn. Sie dachte daran, wie es wäre, den Rest ihres Lebens mit ihm zu verbringen.
Aurelius drückte die Frau herzlich an sich. „Hekae. Schön, dich zu sehen.“
Hekae wandte sich von ihm ab und sah erneut in Amalias Gesicht. Der Blick ihrer Augen war nicht stechend wie der von Grace. Trotzdem vermittelte sie Amalia das Gefühl, sie würde in die Tiefen ihrer Seele sehen.
„Tatjena wusste, was sie tat“, flüsterte sie mit einer rauen Stimme, die Amalia an das Krächzen von Krähen erinnerte.
„Tatjena?“, hakte Amalia nach.
Aurelius machte eine Geste in ihre Richtung. „Das hier ist Amalia. Sei nett zu ihr.“
Die schwarzen Augen von Hekae waren unverwandt auf ihr Gesicht gerichtet.
„Wir stehen an einem Wendepunkt“, sprach sie feierlich. „Und bald wird keiner der Alten mehr da sein, außer einem.“ Sie lächelte. Der Ausdruck veränderte ihr Gesicht vollkommen. Es war, als würde die Sonne aufgehen. „Du bist sicher hungrig, meine Liebe. Du siehst bleich aus.“
Amalia war verwirrt nach dieser merkwürdigen Ansprache, und da sie nicht wusste, wie sie damit umgehen sollte, nickte sie nur. Hekae zog sie zum Bankett und belud ihr einen Teller. Sie nahm nur die Dinge, die Amalia gerne aß. Als ob sie genau wüsste, was ihr schmeckte und was nicht.
„Bitte, meine Liebe. Genieß den Abend. Wir sehen uns später.“ Mit diesen Worten ließ sie die verdutzte Amalia neben Aurelius stehen.
Amalia sah Hekae interessiert nach.
„Für was hält sie sich? Ein Orakel oder eine moderne Hexe? Und wie passt sie in diese Gesellschaft?“
Sie starrte auf Krabben in heller Soße, rosa gebratenes Roastbeef und Antipasti neben kunstvoll verzierten Frischkäseröllchen.
„Tja, der Begriff Fetisch ist wohl dehnbar“, sagte Aurelius ausweichend. „Für manche ist Unschuld ein Fetisch. Jungfräulichkeit. Und Hekae ist noch immer Jungfrau. Sie glaubt daran, dass sie auf diese Weise den Göttern näher ist.“
„Sie wirkt sehr überzeugend. Besser als die Wahrsagerinnen im Fernsehen, die einem die Karten legen.“
Aurelius lächelte, als habe sie einen schlechten Vergleich herangezogen.
„Hekae ist etwas Besonderes.“
Amalia lächelte zurück und verkniff sich die Frage, wie lange Aurelius Hekae schon kannte. Er schien sehr viele interessante Freunde zu haben
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