Schwarz auf Rot
zwei neue Gedichte in der Volkszeitung veröffentlicht, und diese mußten ins Englische übersetzt werden. Ein Mitarbeiter des offiziell dem Parteikomitee in Peking unterstehenden Übersetzungsbüros hatte sich an Yang erinnert und bei ihm wegen einiger Vokabeln nachg e fragt. Es gab nämlich eine besonders heikle Stelle, die da lautete: ›Furzt nicht ‹ . Genau so hatte Mao es geschri e ben, doch die offiziellen Übersetzer irritierte die Vulgar i tät dieses Ausdrucks. Yang gelang es nachzuweisen, daß auch Shakespeare diesen Ausdruck benutzt hatte, und das beruhigte die offiziellen Stellen. Daraufhin gestattete die Schulleitung Yang, englische Bücher zu lesen, falls we i tere politisch bedeutsame Anfragen aus Peking kämen.
Plötzlich wurde Yang krank. Infolge der schlechten Ernährung und der harten Arbeit, ganz zu schweigen vom Druck der j ahrelangen Verfolgung, hatte eine Erkä l tung sich zur akuten Lungenentzündung entwickelt.
Die meisten in der Gruppe waren alt und gebrechlich. Ihre Spezialgebiete waren Physik oder Philosophie, aber sie waren kaum in der Lage, für sich selbst zu sorgen. Es gab kein Krankenhaus in der Gegend, nur eine Klinikst a tion, die mit einer Barfußärztin besetzt war. Ihr Klasse n status war der einer Vollerwerbsbäuerin, und sie arbeit e te, noch immer barfuß, in den Reisfeldern. Natürlich ha t te sie keine medizinische Ausbildung an bürgerlichen Universitäten genossen. Daher widmete sich Gruppenle i terin Yin der Pflege des Kranken. Sie übernahm seine Arbeit in der Küche und bereitete extra Mahlzeiten für ihn zu. Sie beschaffte sogar Antibiotika aus Peking. Nachdem sich sein Zustand langsam besserte, half sie ihm auch weiterhin auf jede erdenkliche Weise und nut z te dazu den wenigen Einfluß, den sie in der Kaderschule besaß.
In der Zwischenzeit hatte sie begonnen, selbst En g lisch zu lernen, und fragte ihn immer wieder um Rat. Seit Präsident Nixon die Volksrepublik besucht hatte, strahlte einer der offiziellen Radiosender einen Englischkurs aus. Es galt nicht länger als politisch unkorrekt, wenn man Englisch lernte. Dennoch war es für eine Kaderstudentin eher ungewöhnlich, denn deren oberstes Ziel sollte ja die Gehirnwäsche sein.
Schon bald kursierten in der Kaderschule Gerüchte über die beiden. Sie besuchte ihn immer häufiger, was seinen Mitbewohnern allmählich lästig wurde. Der g e meinsame Schlafraum war winzig und mit drei Stockbe t ten vollgestellt. Wenn sie kam, um sich mit Yang zu u n terhalten, fühlten sich die anderen fünf genötigt, den Raum zu verlassen und draußen in der Kälte herumzula u fen. Es dauerte nicht lange, bis die Leute merkten, daß die sogenannten Englischstunden nur ein Vorwand w a ren. Die beiden redeten über weitaus mehr als nur Grammatikprobleme. Es entging der Aufmerksamkeit der anderen nicht, daß sich ihre Hände unter dem Tisch tr a fen, während sie sich gemeinsam über ein englisches Buch beugten.
Anfangs dachte sie vielleicht, daß es eines Tages nüt z lich sein würde, Englisch zu können, nachdem es sogar jemandem wie Yang weitergeholfen hatte. Doch bei i h ren Gesprächen mit ihm entdeckte sie bald noch eine weitere Dimension.
Sie redeten nicht nur über Sprache, sondern auch über Literatur. Da es in den Kaderschulen keine Lehrbücher gab, benutzte Yang Gedichte und Romane als Übung s texte. Yin, die ihre Studienjahre mit politischen Aktivit ä ten verbracht hatte, wußte wenig über Literatur. Von ihm lernte sie, was sie seinerzeit versäumt hatte. Während der Lektüre des englischen Romans Random Harvest suchte sie sich den Satz heraus: ›Mein Leben begann mit dir, und du bist meine Zukunft – etwas anderes gibt es nicht.‹ Sie zitierte ihn Yang mit Tränen in den Augen.
Als Motto zu Hemingways Wem die Stunde schlägt, das Yang ins Chinesische übersetzt hatte, las sie: ›Kein Mensch ist eine Insel, ganz sich selbst gehörig: jeder Mensch ist ein Stück des Kontinents, ein Teil des Ganzen … der Tod jedes Menschen vermindert mich, weil ich mit der Menschheit verbunden bin. Deshalb erkunde nie, für wen die Stund e schlägt; sie schlägt für dich.‹
Yang erklärte ihr, daß dies ein Zitat von John Donne sei, der in einem seiner berühmten Liebesgedichte zwei getrennte Liebende mit den beiden Spitzen einer Ko m paßnadel verglichen hatte. Nachdem s ie Ezra Pounds Übersetzung von ›F rau eines Flußfischers‹ gelesen hatte, ging ihr erstmals die Bedeutung von Li Bais Originaltext auf. In einer
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