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Schwarz-Indien

Schwarz-Indien

Titel: Schwarz-Indien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jules Verne
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muß auf ihrer Seele ein gewichtiges Geheimnis lasten,
    das zu entschleiern das Gewissen ihr verbietet. Vielleicht
    glaubt sie sich auch mehr um unseres, als um ihres eigenen
    Besten willen in dieses unerklärliche Schweigen hüllen zu
    müssen.«
    Infolge ähnlicher Betrachtungen war man allgemein über-
    eingekommen, im Gespräch alles zu vermeiden, was das
    junge Mädchen an seine Vergangenheit erinnern konnte.
    Eines Tages wollte es jedoch der Zufall, daß Harry Nell
    mitteilte, wieviel James Starr, sein Vater, seine Mutter und er
    selbst ihrer uneigennützigen Hilfe zu verdanken glaubten.
    Es war ein Festtag. Ebenso wie auf der Oberfläche der
    Grafschaft feierten die fleißigen Arme heute auch in diesem
    unterirdischen Gebiet. Alle gingen ein wenig spazieren. An
    zwanzig verschiedenen Stellen ertönten fröhliche Gesänge
    unter den mächtigen Wölbungen von New Aberfoyle.
    Harry und Nell hatten das Cottage verlassen und folgten
    langsamen Schritts dem linken Ufer des Malcolm-Sees. Dort
    leuchteten die elektrischen Strahlen weniger heftig und bra-
    chen sich launenhaft an einigen pittoresken Felsen, die den
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    gewaltigen Dom stützten. Das Halbdunkel hier tat Nells Au-
    gen gut, die sich nur schwierig an das Licht gewöhnten.
    Nach 1 Stunde Weges blieben Harry und seine Begleite-
    rin vor der Kapelle des heiligen Gilles auf einer natürlichen,
    die Gewässer des Sees beherrschenden Terrasse stehen.
    »Deine Augen sind noch nicht an das Tageslicht ge-
    wöhnt, Nell«, sagte Harry, »und würden den hellen Schein
    der Sonne wohl kaum ertragen.«
    »Gewiß nicht, Harry«, erwiderte das junge Mädchen,
    »wenn die Sonne so ist, wie du sie mir beschrieben hast.«
    »Ach Nell«, fuhr Harry fort, »mit Worten vermag ich dir
    keine richtige Vorstellung von ihrem Glanz, noch von den
    Herrlichkeiten der Welt zu geben, die deine Augen noch
    nicht erblickten. Doch sag mir, ist es möglich, daß du seit
    dem Tag deiner Geburt in der dunklen Kohlengrube nie-
    mals die Erdoberfläche betreten hast?«
    »Niemals, Harry, und ich glaube auch nicht, daß mich
    der Vater oder die Mutter, selbst als ich noch ganz klein war,
    jemals dahin getragen haben. Ich würde doch eine dunkle
    Erinnerung an die Außenwelt bewahrt haben.«
    »Ich glaub’ es«, antwortete Harry. »Zu jener Zeit verlie-
    ßen auch manche andere niemals das Bergwerk. Die Ver-
    bindung mit der Außenwelt war zu beschwerlich, und ich
    habe mehr als einen jungen Burschen oder junges Mädchen
    gekannt, die in deinem Alter genau wie du nichts von den
    Dingen da oben wußten. Jetzt befördert uns aber die Eisen-
    bahn des großen Tunnels in wenigen Minuten an die Ober-
    fläche der Grafschaft. Oh, Nell, wie sehne ich die Stunde
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    herbei, wo du mir sagen wirst: ›Komm, Harry, meine Augen
    vertragen nun das Tageslicht, ich will die Sonne schauen!
    Ich will die Werke des Schöpfers bewundern!‹«
    »Ich hoffe, Harry«, antwortete das junge Mädchen, »recht
    bald so zu dir sprechen zu können. Ich werde mich laben an
    dem Anblick der Außenwelt, und doch ...«
    »Was willst du sagen, Nell?« fragte Harry lebhaft. »Be-
    dauerst du vielleicht, den finsteren Abgrund verlassen zu
    haben, in dem du deine ersten Lebensjahre verbracht hast
    und dem wir dich dem Tod nahe entrissen haben?«
    »O nein, Harry«, erwiderte Nell, »mir kam nur der Ge-
    danke, daß auch die dunklen Tiefen ihre Schönheiten ha-
    ben. Wenn du wüßtest, was die nur an diese Finsternis ge-
    wöhnten Augen da alles erkennen! Manchmal huschen dort
    Schatten vorüber, denen man so gern in ihrem Flug folgte.
    Ein andermal schlingen sich wunderbare Kreise vor dem
    Auge durcheinander, in deren Mitte man so gern bleibt. Tief
    im Grund der Grube gibt es finstere Schluchten, durch die
    dann und wann ein ungewisser Schein zittert. Dann hört
    man wohl Geräusche, die zu sprechen scheinen; – siehst du,
    man muß da unten gelebt haben, um zu verstehen, was ich
    dir mit Worten nicht zu schildern vermag.«
    »Und du fühltest keine Angst, Nell, wenn du da allein
    warst?«
    »Wenn ich allein war, Harry«, antwortete das junge Mäd-
    chen mit besonderer Betonung, »fürchtete ich mich nie-
    mals!«
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    Harry bemerkte es; er glaubte den günstigen Augenblick
    nutzen zu müssen, um vielleicht noch mehr zu erfahren.
    »Doch man konnte sich verirren in den langen Gängen,
    Nell. Hast du das niemals befürchtet?«
    »Nein, Harry, ich kannte alle Stollen und Schächte der
    neuen

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