Schwarz
den Wagen vor dem Logistikzentrum und schaute eine Weile zu, wie Gabelstapler die Hilfsgüter aus der Iljuschin ausluden. Der von der Abendsonne erwärmte Asphalt flimmerte, und Sandstaub schwebte in der Luft.
In den Sudan würde er nie wieder zurückkehren.
ZWEITER TEIL
Land der roten Schatten
28. April – 8. Mai
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Dienstag, 28. April – Mittwoch, 29. April
Die S-Bahn vom Flugplatz fuhr durch die hübschen Vorstädte Wiens, die im roten Licht der Nachmittagssonne leuchteten, und Leo Kara fühlte sich mehr denn je als Außenstehender. Er lebte schon zwei Jahre hier, kannte aber nur die UNO-City, die Gegend, in der er wohnte, das Stadtzentrum, seine Freundin Nadine und eine Handvoll Leute vom UNODC. Den größten Teil seiner Arbeitszeit verbrachte er auf Reisen, und als Persönlicher Assistent des Generaldirektors hatte er auch nicht viele Kollegen.
Am Bahnhof Praterstern kaufte sich Kara im Supermarkt eine Riesenpizza, Obstsaft, Brot, Aufschnitt und Bier, stieg in einen Zug der Metrolinie U1 und fuhr eine Station bis Vorgartenstraße. Hätte er nichts zu tragen gehabt, wäre er das Stück natürlich zu Fuß gegangen.
Das schöne Wetter trieb die Menschen ins Freie. Die winzigen Terrassen der Cafés und Restaurants in der Lasallestraße waren überfüllt, hier und da saßen oder standen junge Leute im Sonnenschein herum, Paare schoben Kinderwagen, und die Sportbegeisterten hatten ihre Inline-Skates hervorgeholt. Er wusste nicht, was er denken sollte, als er die idyllische Wiener Stadtansicht mit dem Elend des Flüchtlingslagers von El Obeid verglich. Der Kontrast erschien ihm unwirklich.
Kara kannte die Gesichter der meisten Geschäftsinhaber und Kellner und auch einiger Leute, die ihm entgegenkamen: Der Mann dort mit dem Rucksack war immer allein unterwegs, und diese junge Frau mit der Lederjacke wohnte in seinem Häuserblock. Schön, dass wenigstens ein Teilbereich seines Gedächtnisses tadellos funktionierte. Sein Gehirn weigerte sich einfach, Zahlen oder Namen zu speichern, aber an Gesichter erinnerte er sich erstaunlich genau. Als Teenager hatte er bei Videoabenden alle Filme aufgezählt, in denener den jeweiligen Schauspieler schon gesehen hatte, und seine Kumpel damit gut unterhalten. Er erkannte jedes Gesicht wieder, selbst wenn es ihm vorher nur einmal über den Weg gelaufen war.
In der Engerthstraße stieg Kara die Treppe hinauf zu seiner Mietwohnung im vierten Stock. Möbel besaß er nur ein paar: einen Sessel, ein Bett, einen Küchentisch und zwei Hocker und dazu einen Fernsehtisch und DVD-Regale. Bilder, Teppiche, dekorative Dinge oder Fotos gab es in der Wohnung nicht. Seine Einrichtung hatte er auf Flohmärkten und im Lager des UNODC aufgetrieben, bis auf die Regale, die stammten von Ikea. Aus seinem Elternhaus in London hatte er als Erinnerung nur einen einzigen Gegenstand mitgenommen, einen Montblanc-Kugelschreiber, den Lieblingsstift seines Vaters. Er besaß nichts Überflüssiges, nichts, was Erinnerungen aufkommen ließ oder für Gemütlichkeit sorgte. Auch hier würde er kaum lange wohnen, in seinem Leben war alles provisorisch.
Ohne jede Vorwarnung packte ihn die Wut, er warf seine Tasche an die Schlafzimmerwand, schmiss den Poststapel auf den Fußboden und versetzte seinem Bett einen derart heftigen Tritt, dass es in allen Fugen krachte. Er musste tief Luft holen.
»Alles ist gut, alles ist gut …«
Kara öffnete eine Flasche Bier, trat auf den kleinen Balkon und schob die Bank zurecht, so dass er ein Stück der Donau und des Naherholungsgebiets Donau-Insel sah. Die Miete für die Wohnung riss ein allzu großes Loch in seine Lohntüte, aber er konnte sich nicht dazu durchringen, auf die Vorteile der Bude zu verzichten. Bis zur UNO-City auf der anderen Seite der Donau waren es nur zwei U-Bahnstationen, und ins Stadtzentrum brauchte man mit der U1 auch nur ein paar Minuten.
Die Mikrowelle klingelte, und Kara machte sich über die Pizza her, er hatte keine Lust, erst zu prüfen, ob sie schon richtig warm war. Schnell stellte sich heraus, dass man sich an der äußeren Schicht den Mund verbrannte, während sie in der Mitte nur lauwarm und am Boden noch kalt war. Kochen zählte nicht zu seinen Stärken, er kam wochenlang mit Brot, Pizza und Bier aus. Er aß nur, um am Leben zu bleiben, und wunderte sich zuweilen, warum ersich eigentlich diese Mühe machte. Vielleicht wollte er sehen, wie alles ausging.
Beim Thema Essen musste er an Ewan denken, der war auch auf diesem Feld
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