Schwarzbuch Kirche - Und führe uns nicht in Versuchung
ernannt.
Aber die neue Bewegung radikalisierte sich. Schon nach der Konferenz von Medellín 1968 war ein militanter Flügel der Befreiungstheologie entstanden, deren Vertreter sozialistische Gruppen bildeten oder das Priesteramt verließen, um in die Politik oder gar in den bewaffneten Kampf zu gehen. Bekannte Namen sind Ernesto Cardenal, der Minister in der sandinistischen Regierung Nicaraguas wurde, oder Jean-Bertrand Aristide, der es 1990 sogar zum Präsidenten seines Heimatlandes Haiti brachte. Trotz dieser Entwicklung, die damals schon erkennbar war, nahm man die neue theologische Richtung in der Kirche ernst, und es wurden in den 1970 er-Jahren noch viele Bischofs- und andere Kirchenämter an Männer vergeben, die sie vertraten. Der als »Erzbischof der Armen und Entrechteten« bekannte Kardinal Lorscheider war nach dem Tod von Papst Paul VI . im Jahr 1978 sogar ernsthaft als dessen Nachfolger im Gespräch.
Aber es kam alles anders. Das Blatt wendete sich mit der Wahl des Polen Karol Wojtyla zum Papst, der die nächsten fast 27 Jahre als Johannes Paul II . amtieren sollte. Er war bisher kein Teilnehmer an den römischen Kabalen gewesen, das hatte sein Gutes. Aber es gelang den innerkirchlichen Gegnern der Befreiungstheologie schnell, den Papst auf ihre Seite zu ziehen. Politische Mitverantwortung der Kirche war in Polen zur Zeit der kommunistischen Herrschaft nicht möglich gewesen, und das hatte Johannes Paul II . in seiner Überzeugung bestärkt, dass der Kommunismus der Hauptgegner des Christentums war.
Endlich sah das konservative Lager die Chance gekommen, der Entwicklung in Südamerika eine andere Richtung zu geben. Seine Vertreter behaupteten, die Befreiungstheologie stifte die Menschen nur zu gewalttätiger Verbesserung ihrer irdischen Lage an, statt sich um ihr Seelenheil zu kümmern. Sie sei eine gottlose Lehre, die dem Kommunismus Vorschub leiste. Revolution und Glaubensabfall wurden als unmittelbar drohende Gefahr an die Wand gemalt. Nun, so deutlich haben die Theologen das natürlich nicht gesagt, sie sind ja geübt in wolkiger Ausdrucksweise.
Aber die Tendenz war klar. Freilich wussten sie auch, dass es mit Worten allein nicht getan war: Die Strukturen, deren sich die Befreiungstheologen bedienten, mussten zerschlagen werden. Dazu strukturierte der Papst die Päpstliche Kommission für Lateinamerika um, sodass diese für die Verteilung von Geldmitteln wichtige Institution vollständig von der römischen Kurie beherrscht wurde. Missliebige Bischöfe wurden in ihrer Tätigkeit beschränkt, bei anderen wartete man das Ende ihrer Amtszeit ab, um sie durch konservative Kandidaten zu ersetzen. Kardinal Lorscheider verlor die Position als Vorsitzender der Lateinamerikanischen Bischofskonferenz, 1995 wurde er von seinem Erzbistum Fortaleza mit gut 2 , 4 Millionen Gläubigen versetzt nach Aparecida mit nur 84 000 . Nachfolger von Hélder Câmara als Erzbischof von Recife wurde der ultrakonservative José Cardoso Sobrinho, der lange Jahre in Rom als Kirchenjurist gedient hatte. In Europa sollte er 2009 bekannt werden, als er die Eltern eines vergewaltigten neunjährigen Mädchens exkommunizierte, weil sie einer Abtreibung zugestimmt hatten. Die Tochter war in großer Gefahr gewesen, die Schwangerschaft nicht zu überleben. Cardoso Sobrinhos Vorgehen verdeutlicht auf extreme Weise die von der neuen beziehungsweise wiedererstarkten konservativen Richtung vertretene Position: Es geht darum, die Seelen zu retten, nicht die Menschen.
Kardinal Arns von São Paulo beschnitt man den Wirkungskreis, indem sein Erzbistum aufgeteilt und damit die Hälfte der bisherigen Diözese anderen, natürlich konservativen Bischöfen überantwortet wurde. Zu seinem Nachfolger wurde schließlich 1998 Cláudio Hummes bestellt. Die neuen Führungsmänner der südamerikanischen Diözesen sorgten dafür, dass die Befreiungstheologie aus den Priesterseminaren verschwand. Prominente Wissenschaftler, wie der aus Köln stammende Paulo Suess, wurden vom Lehramt entfernt, kritische Seminare ganz geschlossen und durch Neugründungen ersetzt, wobei konservative Orden für die Leitung dieser neuen Seminare zum Zuge kamen. Hummes, seit 2001 ins Kardinalskollegium aufgenommen, wurde übrigens 2006 vom Papst nach Rom gerufen, um der Kirche als Präfekt für die Kongregation für den Klerus zu dienen, eine Position, die enormen Einfluss auf Personalfragen mit sich bringt. Der brasilianische Kardinal folgte damit auf den altersbedingt in den
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