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Schwarzbuch Kirche - Und führe uns nicht in Versuchung

Titel: Schwarzbuch Kirche - Und führe uns nicht in Versuchung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bastei Lübbe
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unzureichend. Dass damit noch jahrelang weitere Kinder zu Opfern werden würden, war vorhersehbar. Und es gingen noch einmal fast acht Jahre ins Land, ehe eine grundsätzliche Änderung zumindest in den Bereich des Möglichen rückte. Acht lange Jahre, in denen es neue Fälle gab und in denen die bisherigen Opfer weiter auf eine Mauer des Schweigens und der Verständnislosigkeit stießen.
    Der 28 . Januar 2010 , der Gedenktag des Heiligen und Kirchenlehrers Thomas von Aquin, war in Berlin ein grauer und kalter Wintertag mit Temperaturen nahe dem Gefrierpunkt. An diesem Tag sollte eine Entwicklung einsetzen, die das Vertrauen vieler Menschen, gläubiger und nichtgläubiger, in die katholische Kirche ebenfalls auf den Gefrierpunkt sinken ließ. Berlins Tageszeitung Der Tagesspiegel berichtete: »An dem von Jesuiten betriebenen Canisius-Kolleg in Tiergarten sind jahrzehntelang Schüler von Lehrern sexuell missbraucht worden. Das private Gymnasium gilt als Elite-Schule, die viele führende Politiker und Manager durchlaufen haben.« Die Zeitungsmeldung berichtete auch, dass die Missbrauchsfälle sich schon in den siebziger und achtziger Jahren ereignet hätten und dass es um zwei Täter gehe, die nach derzeitigem Kenntnisstand sieben Schüler missbraucht hätten. Aufgrund der mittlerweile vergangenen Zeitspanne und der recht detailarm dargestellten Ereignisse hätte man erwarten können, dass auch diese Fälle schnell wieder aus dem öffentlichen Interesse verschwinden würden.
    Doch es kam anders. Vielleicht sorgten zwei Umstände dafür. Zum einen die Opfer, Angehörige der Oberschicht an einer »Eliteschule«, das klang interessanter, als wenn es nur Dorf-Ministranten oder Zöglinge eines Waisenhauses gewesen wären. Außerdem fiel die Reaktion der Schulleitung auf die Missbrauchsfälle auf eine völlig neue, bisher unerhörte Weise aus. Der Rektor, und damit der geistliche Leiter des Canisius-Kollegs, hatte endlich einen an ihn herangetragenen Verdachtsfall zum Anlass genommen, dem wirklichen Umfang des Missbrauchs auf den Grund zu gehen. Mit einem Rundschreiben an alle erreichbaren früheren Schüler bat er um Informationen über bisher unbekannt gebliebene Fälle. Am nächsten Tag war die Geschichte Thema in der gesamten deutschen Presse. Der Stern berichtete ausführlich und zitierte aus dem Brief von Pater Mertes an die Ex-Schüler: »Es gehört auch zur Erfahrung der Opfer, daß es im Canisius-Kolleg und im Orden bei solchen, die eigentlich eine Schutzpflicht gegenüber den betroffenen Opfern gehabt hätten, ein Wegschauen gab.«
    Pater Mertes war übrigens seit 1994 Lehrer und seit 2000 Rektor des Berliner Canisius-Kollegs. Der Schritt in die Öffentlichkeit wird ihm nach so vielen Jahren nicht leichtgefallen sein. Offenbar hatte er sich schon länger mit der Problematik gequält und 2009 darüber ein Buch veröffentlicht: Widerspruch aus Loyalität . Darin geht es genau um die Frage, wann man die Gruppe, der man angehört, auch öffentlich kritisieren darf, ja unter Umständen sogar kritisieren muss. Damit stellte Mertes genau den Korpsgeist infrage, der in der Kirche bisher einen offenen Umgang mit den kriminellen Taten eines zwar kleinen, aber doch erheblichen Teils der Geistlichkeit verhinderte. Im Falle von Ordensgeistlichen wiegt dieser Korpsgeist sogar doppelt schwer: hinsichtlich der Loyalität zu seinem Orden und zur Kirche insgesamt. Wobei aus geistlicher Sicht Loyalität mit der »Kirche insgesamt« in der Regel nicht etwa alle 1 , 2 Milliarden Katholiken einschließt, sondern nur die Loyalität gegenüber ihren gut 400 000 »Mitbrüdern« bedeutet. Eine Loyalität mit, sagen wir, einem vierzehnjährigen Schüler aus einer brandenburgischen Kleinstadt, der als Einziger in seiner Klasse katholisch ist und der sonntags in die Kirche geht, statt mit den anderen auf den Fußballplatz, und der jetzt dafür ausgelacht wird und sich böse Verdächtigungen anhören muss, was er denn mit dem Pfarrer so anstelle, eine solche Loyalität ist in der Kirche nicht üblich. Das bezieht sich nicht auf Pater Mertes, sondern auf eine Beobachtung, die man leider häufig machen muss, wenn Geistliche über Kirche sprechen.
    Pater Mertes hatte mit seinem Rundschreiben und etlichen Pressekonferenzen, die er im Februar gab, eine Entwicklung angestoßen, die dann beinahe alle katholischen Bildungseinrichtungen und Bistümer Deutschlands erfasste, vergleichbar einer Kette von fallenden Dominosteinen. Zunächst meldeten sich

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