Schwarze Blumen: Thriller (German Edition)
die glatten, hellblauen Walzen schiebt, so dass das Wasser in den Ausguss läuft. Von der Anstrengung und der Hitze der brummenden Maschine hat sie rote Wangen, und Sullivan fragt sich, wie sie das alles, ohne zu murren, schafft.
Mir geht es immer gut.
»Charlotte ist im Wohnzimmer«, sagt sie zu ihm.
Als er gerade seinen Mantel neben der Tür aufhängen will, hält er einen Moment inne.
»Charlotte?«
Mrs. Fitzgerald beugt sich ein wenig vor, um leise mit ihm zu sprechen. »Wir haben gestern Abend, nachdem Sie gegangen waren, darüber gesprochen. Wir sind übereingekommen, dass sie einen Namen braucht. Also hab ich ihr vorgeschlagen, die Bücherregale durchzugehen, bis sie einen findet, der ihr gefällt. Wilbur und seine Freunde – Charlotte.«
»Charlotte.« Sullivan nickt. Das passt zu ihr. »Demnach kann sie ordentlich lesen?«
»Nicht so, wie man es bei einem Mädchen ihres Alters annehmen sollte«, sagt Mrs. Fitzgerald in vorwurfsvollem Ton, als wäre das angesichts dessen, was sie durchgemacht hat, von Bedeutung. »Aber mehr als nur ein bisschen.«
Sullivan nickt wieder, diesmal nachdenklicher. In seiner Freizeit hat er über Wolfs- und über Findelkinder gelesen, Kinder, die unter äußerst entbehrungsreichen Umständen oder in extremer Isolation von der Außenwelt herangewachsen sind, in einigen Fällen sogar buchstäblich von Tieren im Rudel aufgezogen wurden. Zu den zentralen Fragen, denen sich die Forschung widmet, gehört der Einfluss einer solchen frühkindlichen Erfahrung auf das Lernen. Nach gängiger Auffassung findet der Spracherwerb, wenn er nicht früh genug durch Gemeinschaft und Interaktion gefördert wird, nur unzureichend oder gar nicht statt. Kinder, die unter solchen Umständen groß geworden sind, können oftmals kaum sprechen, geschweige denn lesen und schreiben.
Doch er hat noch nie von jemandem gelesen, der so wie Charlotte aufgewachsen ist. Ihrer Geschichte nach hat ihr Vater versucht, sie und ihren kleinen Bruder aufzuziehen – wenngleich auf seine Weise und nach seinen eigenen Regeln. Ihre Mutter war immerhin ebenfalls da. Zwischen den Zeilen hatte er herausgehört, dass die Frau in krasser Weise wie eine Sklavin gehalten wurde: ein willkürlich unterjochtes Opfer. Doch es mochte ihr gelungen sein, dem Kind das Lesen beizubringen.
»Wie ist es ihr heute ergangen?«
»Sie ist still gewesen, aber sie hat besser gegessen. Und wir haben ein bisschen miteinander gespielt.« Mrs. Fitzgerald spricht ein wenig lauter. »Nicht wahr, Charlotte?«
Als Sullivan sich umdreht, sieht er sie in der Tür zum Wohnzimmer stehen.
In den letzten anderthalb Wochen hat sie sich deutlich verwandelt. Mrs. Fitzgerald besucht jedes Wochenende Secondhand-Shops und kauft, was sie kann, oder bekommt die abgelegten Kleider anderer Familien gespendet, und so ist das Puppenkleid einer Jeans und einem schlichten weißen T-Shirt gewichen. Und noch ein paar kleine Wunder sind geschehen: Das verfilzte, dichte Haar ist jetzt glatt und ordentlich gekämmt und fällt ihr in einer goldblonden Mähne bis über die halben Arme; die Blutergüsse in ihrem Gesicht sind gänzlich verblasst, und aller Schmutz ist längst abgewaschen. Auf den ersten Blick erscheint sie wie ein normales kleines Mädchen – wären da nicht die schönen blauen, doch argwöhnischen Augen und ihr leerer Gesichtsausdruck, der sich seit ihrer ersten Begegnung kaum verändert hat.
Wenigstens hat sie jetzt statt der Tasche etwas Passenderes in der Hand. Einen abgewetzten Teddybär.
»Hallo, Charlotte«, sagt er. »Das ist ein schöner Name, nicht wahr?«
Einen Moment lang herrscht wie jedes Mal abwartende Kühle, ein Rest von Misstrauen vielleicht, doch er ist jeden Abend zu Besuch gekommen, sie hat sich ein wenig an ihn gewöhnt, und so dauert es nicht lange, bis sie sich entspannt. Ohne etwas zu sagen, streckt sie ihm eine kleine Hand entgegen. Sullivan geht hinüber und nimmt sie; da sie zu mehr als einem zarten Griff nicht imstande ist, folgt er ihr und lässt sich mit seiner großen, kräftigen Gestalt ins Wohnzimmer führen.
Eine halbe Stunde lang sitzen sie dort und spielen – Charlotte im Schneidersitz auf dem Boden; Sullivan in einem Sessel. Er beugt sich vor, sieht ihr zu, reagiert, wenn sie etwas sagt, redet nur, wenn sie es möchte.
Die meiste Zeit will sie ihm Dinge zeigen. Mrs. Fitzgerald hat in der Ecke am Kamin eine längliche Plastikkiste mit Spielzeug stehen, aus der sich Charlotte nach Belieben etwas nimmt und
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