Schwarze Engel
nicht beantworten.«
Bosch musterte sie. Ihr Blick war zu Boden gesenkt. Die Frage rührte an den Kern ihrer Schuld.
»Es ist aber wichtig, Mrs. Kincaid.«
»Vor einiger Zeit kam sie einmal zu mir.« Eine neue Tränenflut veranlaßte sie, frische Papiertaschentücher aus ihrer Handtasche zu holen. »Vor etwa einem Jahr … Sie sagte, er stellte mit ihr Dinge an, von denen sie glaubte, sie wären nicht richtig … Zuerst glaubte ich ihr nicht. Aber ich sprach ihn darauf an. Natürlich stritt er alles ab. Und ich glaubte ihm. Ich dachte, es wäre ein Ausdruck ihrer speziellen Probleme. Sie wissen schon, mit ihrem Stiefvater. Ich dachte, das wäre vielleicht ihre Art, ihre Probleme mit ihm zu verarbeiten.«
»Und später?«
Sie sagte nichts, blickte auf ihre Hände hinab. Sie zog ihre Handtasche in ihren Schoß und hielt sie fest umklammert.
»Mrs. Kincaid?«
»Dann gab es bestimmte Dinge. Eigentlich nur Kleinigkeiten. Sie wollte zum Beispiel nie, daß ich ausging und ihn mit ihr allein ließ – den Grund wollte sie mir aber nicht sagen. Rückblickend ist natürlich ganz klar, warum. Einmal blieb er sehr lange in ihrem Zimmer, um ihr gute Nacht zu sagen. Ich ging nachsehen, was los war, und die Tür war abgeschlossen.«
»Haben Sie geklopft?«
Sie saß lange wie versteinert da, bevor sie den Kopf schüttelte.
»Ist das ein Nein?«
Bosch mußte es wegen der Bandaufnahme fragen.
»Ja, nein. Ich habe nicht geklopft.«
Bosch beschloß, weiter zu bohren. Er wußte, Mütter von Inzest- oder Mißbrauchsopfern sahen oft das Offensichtliche nicht und unterließen die nächstliegenden Schritte zum Schutz ihrer Töchter. Jetzt lebte Kate Kincaid in einer persönlichen Hölle, in der ihr Entschluß, ihren Mann – und sich selbst – öffentlicher Ächtung und strafrechtlicher Verfolgung zu überantworten, immer als unzureichend und als zu spät angesehen würde. Sie hatte völlig recht. Ein Anwalt konnte ihr jetzt nicht mehr helfen. Das konnte niemand.
»Mrs. Kincaid, wann schöpften Sie zum erstenmal Verdacht, Ihr Mann könnte am Tod Ihrer Tochter beteiligt sein?«
»Während des Prozesses gegen Michael Harris. Wissen Sie, ich war fest überzeugt, daß er es war – Harris, meine ich. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, die Polizei könnte diese Fingerabdrücke selbst an dem Buch angebracht haben. Selbst der Staatsanwalt versicherte mir, das wäre schon allein technisch so gut wie unmöglich. Also glaubte ich an Harris’ Schuld. Ich wollte daran glauben. Doch dann wurde während des Prozesses einer der Detectives, ich glaube, es war Frank Sheehan, in den Zeugenstand gerufen, und er sagte aus, sie hätten Michael Harris an seinem Arbeitsplatz verhaftet.«
»In der Waschanlage.«
»Ja. Er nannte die Adresse und den Namen der Firma. Und dann fiel es mir plötzlich wie Schuppen von den Augen. Mir fiel ein, daß ich mit Stacey in diese Waschanlage gefahren war. Mir fielen ihre Bücher auf dem Rücksitz ein. Ich erzählte es meinem Mann und meinte, wir sollten es Jim Camp sagen. Das war der Staatsanwalt. Aber Sam redete es mir aus. Er sagte, die Polizei wäre sicher und er wäre sicher, daß Michael Harris der Mörder ist. Er sagte, wenn ich diesen Punkt erwähnte, bekäme es die Verteidigung heraus und würde es dazu benutzen, die Beweisführung anzufechten. Die Wahrheit würde, ähnlich wie im Fall O. J. Simpson, niemanden interessieren. Wir würden den Prozeß verlieren. Er hielt mir vor Augen, daß Stacey in unmittelbarer Nähe von Harris’ Wohnung gefunden worden war … Er sagte, möglicherweise hätte er sie damals in der Waschanlage mit mir gesehen und angefangen, uns nachzustellen – ihr nachzustellen. Er konnte meine Bedenken ausräumen … und ich beließ es dabei. Ich war noch immer nicht sicher, daß es Harris nicht war. Ich tat, was mein Mann mir sagte.«
»Und Harris wurde freigesprochen.«
»Ja.«
In dem Glauben, vor der nächsten Frage wäre eine Pause nötig, hielt Bosch einen Moment inne.
»Was gab den Ausschlag, Mrs. Kincaid?« fragte er schließlich. »Was veranlaßte Sie schließlich dazu, Howard Elias diese Nachrichten zu schicken?«
»Mein Argwohn war nie ganz ausgeräumt. Und dann belauschte ich vor ein paar Monaten ein Gespräch, das mein Mann mit seinem … seinem Freund führte.«
Sie sagte das Wort ›Freund‹, als wäre es das Schlimmste, was man über jemanden sagen könnte.
»Mit Richter?«
»Ja. Sie dachten, ich wäre nicht zu Hause, was ich an sich auch nicht
Weitere Kostenlose Bücher