Schwarze Pest aus Indien
radelten weiter.
Gaby trug eine Dreivierteljacke mit
Kapuze. Sie hatte inzwischen ihr Goldhaar verhüllt, denn der Wind wurde immer
östlicher.
„Da!“ rief Karl und wies auf ein
Straßenschild. „Weidegrabenweg.“
„Was ist eigentlich eine Bullenweide?“
fragte Klößchen. „Werden dort Polizisten zum Grasen eingesetzt? ‘tschuldigung,
Gaby. Deinen Vater meine ich natürlich nicht. Den würden wir nie als Bullen
bezeichnen, unseren Kommissar.“
„Auch die meisten seiner Kollegen“,
entgegnete sie, „verdienen diese ab wertende Berufsbezeichnung nicht. Ein
Polizist ist ein Ordnungshüter, und ein Bulle ist ein geschlechtsreifes
männliches Rind.“
„Im Sprachgebrauch hat sich der Bulle
nun mal eingeschliffen“, stellte Karl fest. „Niemand denkt sich mehr was Böses
dabei. Man sagt ja auch Scheiße und meint: Ach, wie ärgerlich!“
„Für mich trifft das nicht zu“,
widersprach sie. „Ich unterscheide zwischen dem saloppen Ton mit euch und
gepflegtem Deutsch.“
„Auch wir sind der Hochsprache
mächtig“, sagte Tim. „Bitte, richtet eure Blicke nach rechts. Dort wurden die
anliegenden Grundstücke mit ungeraden Zahlen versehen. Allerdings befinden wir
uns hier am hinteren Ende des Weges, denn der Bungalow dort hat die Nummer 39.
Sobald wir Heilmanns Adresse erreichen, könnte es erforderlich werden, daß wir
unsere Entscheidung hinsichtlich der aufzustellenden Falle von den örtlichen
Gegebenheiten abhängig machen. Der Augenschein wird uns das lehren.“
„Bitte“, sagte Karl, „red’ wieder so,
wie dir der Schnabel gewachsen ist.“
„Okay!“ lachte Tim.
Sie fuhren weiter. Und merkten, daß
Vierlingsstetten-Oberwurz wie eine schmale Halbinsel in das östlich der Stadt
liegende Weideland hineinragt. Rechts und links des Weidegrabenwegs führten
Sackende-Gassen schon nach kurzer Strecke aufs freie Feld. Freilich — auch dort
war Bullenweide. Offenbar hatte man ein größeres Gebiet für die nicht
ungefährlichen Hörnerträger eingezäunt. Blechschilder am Elektrozaun warnten
vor dem Zutritt.
Die Häuser hier waren meist aufwendige
Bungalows, aber auch mehrgeschossige Einfamilienhäuser mischten sich in die
Reihen: ein komfortables Wohngebiet, ruhig und ohne Geschäfte. Allerdings
endete der U-Bahn-Anschluß schon in Audorf.
„Wir sind da.“ Tim hielt.
An dem Steinpfeiler zwischen
Gartenpforte und Garageneinfahrt hing das Schild: Dr. med. Claus Heilmann,
praktischer Arzt u. Sportmediziner — Sprechstunden nach Vereinbarung.
Das Haus besaß ein Obergeschoß und war
durch den Anbau der Praxisräume L-förmig erweitert worden. Nirgendwo brannte
Licht. Die Pforte und das Tor der Einfahrt waren geschlossen. Nur noch drei
Häuser schlossen sich an, dann war die Großstadt zu Ende. Die nächste Laterne
stand etwa 50 Meter entfernt. Zwar hatte auch Heilmann Laternen in seinem
Garten aufgestellt, aber die wurden sicherlich nur bei entsprechenden Festen
eingeschaltet. Jetzt schimmerte ihr lackweißer Anstrich zwischen den
zahlreichen Büschen. Soweit man im Dunkeln ausmachen konnte, bestand der Garten
hauptsächlich aus Büschen.
„Ihr könnt ja hier warten“, sagte Tim.
„Ich pirsche erst mal ums Haus. Dann verteilen wir uns strategisch.“ Er deutete
auf den Holunderstrauch, der auf der anderen Straßenseite stand. „Dort kannst
du dich verstecken, Gaby. Knobel wird dich nicht bemerken. Aber — vielleicht
finde ich noch was Besseres für dich.“
„Ich will keine Sonderrechte“,
erwiderte sie.
„Die kriegst du aber. Erstens bist du
ein Mädchen, zweitens sind wir für deine Sicherheit verantwortlich.“
Er übergab Karl sein Rennrad.
Klößchen wühlte in seinen Taschen, fand
aber keine Schokolade. In Panik geriet er deshalb nicht — noch hielt ihn die
verspeiste Schokotorte bei Kräften.
Tim zog den Reißverschluß seiner windabweisenden
Sportwear-Long-Jacke bis zum Kinn hoch und flankte über den Zaun.
Die Garage war geschlossen, eine
zweiflügelige Tür. Er drückte auf die Klinke. Offen. Er blickte in die
Doppelgarage, sah aber vor lauter Dunkelheit nichts und machte Licht.
Ein kleiner englischer Sportwagen
fühlte sich einsam. Vermutlich erledigte Heilmanns Ehehälfte Elsedore damit
ihre Einkäufe. Der Mercedes des Arztes fehlte.
Tim schloß die Garage, ging an der
Hausfront entlang, vermied es, die Herbstblumen niederzutreten, kam am
Hauseingang vorbei und bog um die Ecke.
Die Seitenfront dehnte sich lang.
Hinter dem Haus rauschte der Wind in
den
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