Schwarze Rose der Nacht - Amber, P: Schwarze Rose der Nacht
Augenblicke das Gefühl gehabt, Marlow sehe sie mit völlig anderen Augen an.
Nimm dich in acht, sagte sie zu sich selbst. Bilde dir nur nicht ein, dass er etwa in dich verliebt wäre. Du bist nichts als sein Spielzeug.
Und wenn es ihr gelänge, durch die Musik einen Weg zu ihm zu finden? Zu jenem Nicholas Marlow, der er früher einmal gewesen war.
Sie suchte in ihrem Notenstapel und wählte schließlich ein Werk von Beethoven, das sie ganz besonders liebte. Es war ein anspruchsvolles Werk und sie würde an ihre technischen Grenzen gelangen, dazu kam, dass Marlows Klavier ihr neu und ungewohnt sein würde. Doch kein anderes Musikstück hatte sie so sehr aufgewühlt wie dieses.
Sie ging langsam durch den Flur, das Notenheft an die Brust gepresst, immer noch unentschlossen, ob sie dieses Wagnis eingehen sollte. Aber was hatte sie schon zu verlieren?
Von unten drangen Stimmen zu ihr hinauf. Die beiden Männer hatten sich in der Halle eingefunden und in Erwartung des Klaviervorspiels auf den Rattanstühlen Platz genommen.
„Ich weiß, dass es völlig absurd ist, Nicholas. Dennoch solltest du vorsichtig sein. Die ganze Stadt ist in Aufruhr und meine ehemaligen Kollegen bei der Polizei stehen unter einem riesigen Druck.“
„Was könnte es euch nützen, den Falschen zu verhaften? Der Mörder von Whitechapel wird weiter sein Unwesen treiben.“
„Es geht auch um deine Reputation als Anwalt. Allein der Verdacht – selbst wenn er sich als falsch erweist – kann schon großen Schaden anrichten. Das weißt du selbst am besten.“
„Was soll ich tun? Auswandern?“
„Du könntest für eine Weile auf Reisen gehen. Quartiere dich bei irgendwelchen Verwandten ein, die später bezeugen können, dass du dich bei ihnen aufgehalten hast.“
„Das ist doch absurd.“
„Eine Vorsichtsmaßnahme. Weiter nichts. Früher oder später wird er einen Fehler machen und die Kollegen kriegen ihn. Meine Güte – bin ich froh, dass ich schon im letzten Jahr meinen Abschied vom Dienst genommen habe und mir diese böse Geschichte erspart geblieben ist.“
„Ja, du bist ein Glückspilz, Jeremy!“
Violet hatte dem Gespräch ungläubig zugehört. Hatte sie recht verstanden? Marlow wurde verdächtigt, der Mörder von Whitechapel zu sein? Aber das war doch vollkommen irrsinnig. Sie schüttelte den Kopf und ging nun mit entschlossenen Schritten die Treppe hinunter.
Forch saß mit angewinkelten Knien, die Hände vor dem Bauch gefaltet und lächelte Violet erwartungsvoll entgegen, Marlow hatte die Beine weit ausgesteckt und den rechten Arm auf die Lehne des Stuhls gestützt. Er hatte sein Sherryglas mitgenommen, es neben sich auf das Tischlein gestellt und nippte hin und wieder davon. Seine Miene war unbeweglich, die Augen halb geschlossen und zu Boden gerichtet. Er sah aus wie ein Mensch, der eine unangenehme, aber leider unvermeidbare Angelegenheit über sich ergehen lassen muss.
Das Klavier hatte im Hintergrund des Raumes an der Wand gestanden, man hatte einen bunten Kelim darüber geworfen, weswegen Violet das Instrument zwischen den üppigen Topfpflanzen nicht gleich entdeckte hatte. Nun hatte man Charles beauftragt, das Instrument in die Mitte des Raumes zu rollen, und auch ein Klavierhocker hatte sich angefunden. Violet genoss den Moment, als sie den Deckel der Klaviatur anhob und schöne, mit Elfenbein belegte Tasten sichtbar wurden.
Probeweise schlug sie einige Tonfolgen an und stellte entzückt fest, dass das Instrument einen hervorragenden Klang hatte und – obgleich es lange nicht gespielt worden war - die Stimmung gehalten hatte. Ihr Herz klopfte, doch ihre Finger waren ruhig, wie immer, wenn sie Klaviertasten unter sich spürten.
Der erste Akkord erfüllte den Raum mit düsterem, erwartungsschwangerem Klang, ließ die Realität versinken und schuf eine fantastische Welt der Emotionen. Violet spielte wie im Rausch, hörte die Töne und Rhythmen in ihrem Inneren noch bevor ihre Hände sie spielten, gab sich der dunklen, erregenden Atmosphäre dieser Klangwelt vollkommen hin, spann sich darin ein, spürte sie am ganzen Körper.
Nach dem ersten Satz hielt sie inne, lehnte sich ein wenig zurück und ließ die Hände sinken, während all ihre Sinne noch bei der Musik waren. Niemand sagte ein Wort, doch sie spürte deutlich die Spannung im Raum und setzte ihr Spiel unaufgefordert fort. Als der letzte Akkord verklungen war, blieb sie still vor dem Instrument sitzen, lauschte den Tönen nach, dann schloss sie langsam das
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