Schwarze Rosen
anonyme Brief und die Worte ihres Mannes beim Abschied ließen ihr keine Ruhe, und sie überlegte in ihrer Verzweiflung, jemanden anzurufen.
15
In den noch ruhigen Straßen lag die Sonne, und es wehte ein laues Lüftchen. Vielleicht hatte nach dem gestrigen Gewitter nun wirklich der Sommer Einzug gehalten. Die Bürgersteige waren so gut wie verlassen, es war noch vor neun.
Auch an diesem Morgen wirkte Florenz mit seinen Piazze, seinen alten Straßen und Gassen und dicht an dicht stehenden Häusern liebenswürdig und harmlos. Eine Ansichtskartenkulisse, wie sie zuhauf an den Souvenirständen ausgestellt war und in alle Welt verschickt wurde. Mit diesen Augen betrachtet, machte die Stadt den Eindruck, als gehörte sie zu den friedlichsten überhaupt, als wäre sie ein Ort, an dem man keinen Gedanken an Verbrechen und Tragödien zu verschwenden brauchte.
Wie oft schon hatte der Commissario sich gewünscht, dassdie Wirklichkeit auch nur annähernd so wäre, wie sie sich den Touristen darstellte. Doch es war zwecklos, sich Illusionen hinzugeben, vor allem, wenn man wie er von Berufs wegen hinter den schönen Schein blicken und die dunkle Seite erforschen musste, die fast alle Einwohner hartnäckig leugneten und für eine Erfindung der Journalisten hielten.
Gedankenverloren lenkte er seine Schritte ins Präsidium. Er wurde das Bild von Petra nicht los, die mit dem Drohbrief vor ihm herumwedelte, und auch nicht das Gefühl, dass ihm etwas Wichtiges entging.
In der Via Zara angekommen, sah er auf die Uhr: neun Uhr zehn. Ungewöhnlich spät für ihn, da er normalerweise der Erste war oder einer der Ersten, die das Wachkorps am Eingang passierten. Wie üblich ging Ferrara zuerst in das Zimmer seines Sekretärs und fand Nestore Fanti mit blasser Dienstmiene am Schreibtisch vor, wo er auf die Computertastatur einhackte. Der Mann lachte nie, auch nicht, wenn die Kollegen ihn mit Witzen traktierten, um ihn aus der Reserve zu locken.
»Salve, Fanti.«
Der Sekretär sprang auf und erwiderte den Gruß. Ein flüchtiger Blick genügte ihm, um seinerseits festzustellen, dass der Chef nicht gut aussah. Fanti bemerkte alle Anzeichen von Müdigkeit, ahnte aber, dass es nicht nur das war. Geradezu düster kam der Commissario ihm vor. Schnell setzte Nestore Fanti sich wieder und nahm schweigend und geschäftig seine Arbeit auf. So verhielt er sich immer, wenn er merkte, dass jemand keinen guten Tag hatte. Schließlich war er nur ein kleines Rad im Getriebe des Ermittlungsapparates, dem man gewiss keine Erklärungen schuldete. Sinnlos also, Fragen zu stellen. Das tat er nie, schon gar nicht dem Chef.
In seinem Büro warf der Commissario als Erstes einen Blickin die Zeitungen, die wie immer schon auf dem Schreibtisch bereitlagen, neben der Computerkonsole.
Dem Vorfall in den Cappelle del Commiato wurden nur wenige Zeilen gewidmet, die Presse schien sich nicht dafür zu interessieren. Nicht viel Aufhebens also, nur die Vermutung wurde geäußert, dass es sich um die makabre Aktion eines Geisteskranken handelte, den die Polizei unter den Besuchern der Leichenhalle zu identifizieren suchte.
Dann erregte ein Artikel im Corriere della Sera Ferraras Aufmerksamkeit, der den Titel trug:
Ein Ripper lehrt das Gruseln. Jack ist immer noch unter uns!
Neugierig geworden, las der Commissario weiter.
Er ist männlich, zwischen 20 und 45 Jahre alt, von sportlicher Statur und überdurchschnittlicher Körperkraft: So sieht das Profil des typischen Serienmörders aus. Ein simples, äußerst vages und daher beängstigendes Porträt, das allzu sehr dem ruhigen Hausbewohner von nebenan gleicht … Weitere Merkmale, sagen Kriminologen und Polizisten, betreffen sein Berufsleben: Er ist oft ohne feste Arbeit, und wenn er einer nachgeht, bevorzugt er medizinische Berufe wie Arzt oder Krankenpfleger. »Eines Tages wird die Menschheit zurückblicken und sagen, dass ich das zwanzigste Jahrhundert ins Leben gerufen habe«, hatte Jack the Ripper in seinen »Briefen aus der Hölle« prophezeit. Er ist und bleibt die Nummer eins der traurigen Brut und verkörpert bis heute die finstere Seite des puritanischen London am Ende des neunzehnten Jahrhunderts. Über hundert Jahre später ist der Mythos weit davon entfernt zu verblassen, sondern findet weiter Anhänger und Nachahmer. Im wirklichen Leben wie im fiktiven …
»Bevorzugt medizinische Berufe wie Arzt oder Krankenpfleger …«, murmelte Ferrara und notierte sich das auf einem Blatt Papier. Wer weiß,
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