Schwarze Schafe in Venedig
alles hatte ihn nicht daran gehindert, aus vollem Hals um Hilfe zu schreien. Zum Teufel mit der Wurmtheorie. Er brauchte einfach bloß laut genug zu brüllen, um Martin und Antea auf den Plan zu rufen, die dann sicher hochgegangen waren und nachgeschaut hatten, was da los war. Schließlich hatten sie ja auch gehört, wie ich mich nach der Bombenexplosion nach Hause geschleppt hatte, und Borelli hatte sicher wesentlich mehr Krach geschlagen als ich.
Ich nahm die Hände von den Augen und warf Victoria einen wahrhaft bemitleidenswerten Blick zu. Sie hatte die Hände ihres Vaters in die eigenen genommen und redete in einem sehr ernsten Ton auf ihn ein, wobei sie sich größte Mühe gab, ihm das Unverständliche irgendwie zu erklären.
»Aber Schätzchen«, stammelte er und schaute mit unverhohlener Sorge zwischen uns beiden hin und her, »das ist ja einfach furchtbar. In was ihr da hineingeraten seid, ist hochgefährlich.«
»Da haben Sie vollkommen Recht, Sir«, sagte ich. »Und das ist allein meine Schuld. Ich übernehme die volle Verantwortung.« Ich legte eine Hand aufs Herz. »Ich sollte auf der Stelle zur Polizei gehen und alles gestehen.«
Er starrte mich durchdringend an, und dann starrte er mich noch durchdringender an. Vermutlich konnte er es nicht fassen, dass ich den Nerv hatte, überhaupt den Mund aufzumachen.
»Die verdammte Polizei, Charlie. Himmel noch eins, wisst ihr denn nicht, wer dieser Borelli ist? Das ist einer der fiesesten Widerlinge, denen über den Weg zu laufen ich je das Pech hatte.« Und mit einem Seitenblick auf Victoria fügte er hinzu: »Schätzchen, er ist der Grund, weshalb ich überhaupt nach Venedig gekommen bin.«
Dreiunddreißig
Alfred schien es einen Heidenspaß zu machen, andere zu überraschen. Man bekam fast den Eindruck, in seinem Leben drehe sich alles um dieses unvergleichliche Hochgefühl. Das Überraschungsmoment gehörte untrennbar zu seinen unmöglich erscheinenden Casino-Triumphen – wenn er eine unerwartete Karte umdrehte oder ein gewagter Wetteinsatz sich mit einem unerhörten Gewinn auszahlte – und hatte über die Jahre zweifellos zu seinem Erfolg beigetragen. Gebildet und wortgewandt, immer lächelnd und stets charmant und noch dazu mit einem Seniorenfahrausweis in der Tasche entsprach er so gar nicht dem gängigen Klischee eines Schwindlers und Betrügers. Casinos, die noch nichts von seinem ihm vorauseilenden Ruf gehört hatten, neigten sicher dazu, ihn für harmlos zu halten und gnadenlos zu unterschätzen, genauso wie die restliche Rentnergang, deren Kopf er war. Ein unverzeihlicher Fehler. Er war geschäftstüchtig und gewitzt, und seinen blitzenden Augen nach zu urteilen schien er geradezu entzückt, mich so schockieren zu können.
»Wusstet ihr das nicht?«, fragte er.
»Das mit dem Grafen?« Ich schüttelte den Kopf. »Ich weiß so gut wie gar nichts über ihn, muss ich zu meiner Schande gestehen. Außer dass jemand ihn umbringen wollte, natürlich, und dass ich es beinahe geschafft hätte, diesem Wunsch nachzukommen.«
»Das wäre nicht das Schlimmste gewesen.«
» Dad.«
»Tut mir leid, Schätzchen, aber es stimmt.« Er tätschelte Victoria die Hand. »Er ist der Teufel in Menschengestalt.«
Alfred lockerte seine Krawatte und öffnete den obersten Hemdknopf am Kragen. Dann stand er auf, zog das Jackett aus und hängte es in den Schrank, um anschließend die goldenen Manschettenknöpfe abzunehmen.
Wie ich Alfred so dabei zusah, als er es sich etwas bequemer machte, ging mir auf, wie gerne ich mich auch umgezogen hätte. Fremde Kleidung zu tragen gehörte noch nie zu meinen Lieblingsbeschäftigungen – vor allem dann nicht, wenn der nervöse Angstschweiß des Vorbesitzers noch daran haftete. Aber das war jetzt wohl kaum der richtige Zeitpunkt, Alfred zu bitten, mir eins seiner Unterhemden zu borgen. Lieber den muffigen Geruch ignorieren, der mir in die Nase stieg, und sich darauf konzentrieren, was gesagt wurde.
Alfred krempelte die Hemdsärmel hoch und griff nach der Sessellehne. »Schätzchen, erinnerst du dich noch daran, wie ich dir von John und Eunice White erzählt habe?«
Victoria nickte. »Natürlich. Du hast mit ihnen zusammengearbeitet.«
Er verzog das Gesicht und schaute auf seine Fingerknöchel. »Vor einem Monat waren sie in Monte Carlo. Vorher haben wir eine sehr lohnenswerte Reise durch Südkorea gemacht, weißt du, und es war Zeit für eine kleine Auszeit. Man sollte immer aufhören, wenn es am schönsten ist. John war
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