Schwarze Schafe in Venedig
hat.«
»Ich habe sie auch wiedererkannt«, sagte Alfred zu mir.
»Aber was soll das denn bitte heißen?«, fragte Victoria und wedelte mit den Bildern in der Luft herum. »Was haben diese Fotos zu bedeuten?«
Alfred legte ihr eine Hand auf die Schulter und beugte sich zu ihr hinunter, um ihr einen Kuss auf den Kopf zu drücken. »Das sind die Fotos, die Eunice mir aus Monte Carlo geschickt hat. Wir hätten uns wohl denken können, dass es sich um ein und denselben Grafen handelt. Aber dieses Mädchen habe ich vor Beginn des Turniers noch nie gesehen. Sie hat diese Woche jeden Abend gedealt, und unser Freund Borelli hatte jedes Mal einen Höhenflug, wenn sie an unserem Tisch war. Ich wusste natürlich, warum, aber wenn ich Charlie richtig verstanden habe, hat sie nicht bloß ein Händchen für Karten, sondern auch ein Talent fürs Einsteigen. Sicher erinnert ihr euch noch, dass Eunice das Gefühl hatte, jemand sei in ihr Hotelzimmer eingebrochen. Ich wage zu behaupten, höchstwahrscheinlich steckte diese junge Dame dahinter.«
»Meinen Sie, sie hat auch geholfen, die Koffer zu vertauschen?«, fragte ich.
»Ich habe im Casino nachgefragt«, erzählte er mir. »John wurde in bar ausbezahlt. Die Scheine waren in einem Aktenkoffer – den es gratis dazugab.«
»Identische Ausgangslage.«
Alfred nickte. »Allmählich glaube ich fast, ich hatte Glück, dass ich heute Abend nicht gewonnen habe, was?«
Vierunddreißig
Langsam reichte es mir mit dem endlosen Gerede. Da saßen wir nun tatenlos in einem Hotelzimmer rum und fügten die einzelnen Punkte, was wann wo und warum passiert war, wie bei einem Zahlenbild zusammen, während sich dessen ungeachtet die Ereignisse um uns herum überschlugen. Inzwischen war es 1.15 Uhr. Das Black-Jack-Turnier war sicher längst zu Ende, und wenn wir mit unserer Vermutung richtiglagen, dann teilten Graziella und ihr schmieriger Kompagnon wohl gerade den Gewinn unter sich auf. Und viel wichtiger noch, die Polizei hatte mittlerweile bestimmt den Grafen Borelli befragt, weshalb ich nun höchstwahrscheinlich schon im Zusammenhang mit einer Entführung gesucht wurde. Nun hat Venedig zwar durchaus einen gewissen Charme, aber es lässt sich leider nicht ignorieren, wie beengt die Verhältnisse in der Stadt doch sind. Würde man erst mit Foto und Beschreibung nach mir fahnden, könnte ich keinen Tag länger mehr hierbleiben. Mir blieb also vermutlich nur noch bis zum Morgen Zeit, mich frei zu bewegen – sagen wir, bis allerhöchstens zehn Uhr. Langsam fürchtete ich, das könnte eine schlaflose Nacht werden.
Ich schnappte mir das Telefon vom Sideboard und tippte Pierres Nummer ein. Eigentlich hätte ich Alfred wohl zuerst um Erlaubnis bitten müssen, ehe ich seine Hotelrechnung mit Auslandsgesprächen in astronomische Höhen trieb, aber unter den gegebenen Umständen hielt ich mein Verhalten für verzeihlich. Wir hatten jede Menge Theorien und noch mehr wilde Spekulationen, aber ich brauchte endlich Gewissheiten.
Das Telefon summte und summte dann noch mal. Dann fing es wieder von vorne an. Ich schaute auf meine Armbanduhr, doch dann fiel mir ein, dass ich ja schon wusste, wie spät es war. Das Telefon klingelte unermüdlich weiter, ganz unbeteiligt, wie ein monotoner einschläfernder Herzschlag.
»Wen rufst du denn an?«, wollte Victoria wissen.
»Pscht«, zischte ich und drehte ihr den Rücken zu, und dann hielt ich mir zur Sicherheit auch noch das freie Ohr zu. Fragen Sie mich nicht, warum – schließlich war nichts zu hören außer dem Wählton.
Das Telefon tutete unverdrossen weiter, bis die Leitung irgendwann unterbrochen wurde, ohne dass jemand rangegangen war. Dabei wusste ich doch ganz genau, dass Pierre einen Anrufbeantworter in der Wohnung hatte, den er einschaltete, wenn er nicht zuhause war – weil ich ihn nämlich mit eigenen Augen gesehen hatte, als ich bei ihm eingebrochen war. Also wählte ich die Nummer noch mal und lauschte noch ein bisschen auf das Tuten.
»Geh ran«, sagte ich. »Mach schon. Geh ran.«
Und das tat er tatsächlich. Nur um umgehend den Hörer fallen zu lassen. Man hörte ein Knacken und einen dumpfen Aufschlag. Dann leises Fluchen.
» Allo?« Die Stimme klang schlaftrunken und kurz angebunden und triefte nur so vor Missfallen.
»Pierre, hier ist Charlie. Ich weiß, es ist spät, und es tut mir leid, dass ich dich jetzt noch anrufe, aber ich stecke in Schwierigkeiten. Du musst mir unbedingt sagen, ob du irgendwas über das Mädchen in
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