Schwarze Tränen: Roman (German Edition)
ab dem elften Jahrhundert durch eine moderne Notation abgelöst.« Er drehte sich wieder zu ihnen um. »Wann lebte dieser Severin noch einmal?«
Lukas sah Millepertia hilfesuchend an. »Gestorben ist er angeblich Mitte des zwölften Jahrhunderts.«
»Sehr gut! Dann liege ich auch mit den Noten richtig. Offenbar wird hier auf eine Modalnotation zurückgegriffen. Die Extremitäten der Dargestellten sind alle auf den gleichen Höhenebenen angebracht. Verbindet man sie, kann man aus ihnen Linien zur Bestimmung der Tonhöhe bilden. Wirklich raffiniert. Die Neumen allein liefern nämlich keine exakten Tonhöhenhinweise.« Der Drummer schürzte die Lippen zu einem schmalen Lächeln. »Gebt mir Stift, Papier und ein paar Stunden Zeit, und ich versuche mich daran, die Notation zu entschlüsseln.« Er wandte sich dem Sänger zu. »Adam, du hast doch früher Grigorianik-Pop gehört.
Enigma
und so. Und soweit ich weiß, hast du das Zeug auch gesungen.«
Adam sah seine Bandkollegen schuldbewusst an. »Hey, das ist lange her.«
»Egal, mach dich schon mal mit dem Liedtext vertraut.«
»Kann ich ebenfalls helfen?«, wollte Ben wissen.
»Klar, du bist ja der Einzige unter uns mit einem Instrument. Wir müssen die Melodie testen.« Der Drummer sah sich angestrengt suchend um, gebot den anderen kurz zu warten und verließ das Grabgewölbe, um durch den Schacht im Vorraum wieder nach oben in die Pyramide auf dem Marktplatz zu klettern.
»Was macht er da oben?«, fragte Adam. Doch auch Lukas wusste nicht, was der Drummer im Sinn hatte. Wenig später kehrte der Musiker wieder zu ihnen zurück. Mit sich brachte er die tote Taube, die oben neben der Kalksteinplatte gelegen hatte, und plazierte sie auf dem Deckel der Urne.
»Mir dämmert langsam, warum sich Severin damals verbrennen ließ«, flüsterte Lukas Millepertia zu, während sie dabei zusahen, wie die Devils ihr ganzes musikalisches Können zusammenwarfen, um der Totentanzdarstellung ihr Geheimnis abzutrotzen. »Er wollte verhindern, dass er selbst als Testobjekt missbraucht wird.«
»Hat sich nicht auch der Markgraf einäschern lassen?«, fragte Millepertia bedeutungsvoll. Die beiden sahen den Devils weiter zu, deren Unterfangen den ganzen Nachmittag in Beschlag nahm. Immer wieder erfüllte Geigenmusik die beiden Gewölbe; auch Adam warf sich mit seiner Sangesstimme ins Zeug, doch der Erfolg ließ auf sich warten. Lukas kletterte in unregelmäßigen Abständen wieder nach oben, vergewisserte sich, dass der dichte Nebel über der Stadt andauerte, und schickte einen der Gitarristen los, damit dieser Mephisto über ihren Fund verständigte.
Die übrige Zeit vertrieb er sich damit, Sarg und Engelsdarstellungen im Grab des Markgrafen abzuschreiten. Unvermittelt hielt er inne. »Mille. Ich denke, hier ist noch eine weitere Botschaft verborgen.«
»Was meinst du?« Sie trat neben ihn.
»Die Wandbilder stellen gleich zweimal einen Bezug zwischen Gabriel und Johannes dem Täufer her. Falls Ben richtigliegt und der Erzengel Johannes den Täufer als eine Art Werkzeug benutzt hat …« Millepertia schwieg, und er lächelte ihr ermunternd zu. »Na, komm schon. Du hast mir schließlich erzählt, wie das Johanniskraut zu seinem Namen kam. Dass es aus dem Blut des Propheten wuchs. Wenn also hinter Johannes dem Täufer die Macht des Erzengels Gabriel steckt … glaubst du nicht, dass das Johanniskraut dann auch von seiner Kraft erfüllt ist? Und wenn das so wäre, stünde dir letzten Endes einer der Erzengel höchstpersönlich bei! Das würde auch erklären, warum
du
im Hardtwald die Vision hattest – und nicht Ben.«
Millepertia senkte den Blick, dann drehte sie sich weg. »Das würde nichts ändern. Im Gegenteil.« In ihren Augen glitzerten Tränen.
Lukas’ Aufregung wich Bestürzung. »Mille, was ängstigt dich so? Alles deutet doch darauf hin, dass dich der Himmel noch nicht aufgegeben hat. Er scheint sogar aktiv in den Kampf zwischen Teufeln und Dämonen einzugreifen! Überleg doch: Die ganze Zeit über jagen wir diesen Teufelstränen hinterher, obwohl wir keine Ahnung haben, was wir dann mit ihnen tun sollen. Was, wenn
du
der Schlüssel zur Antwort auf unsere Fragen bist? Was, wenn sich dir der Himmel nicht umsonst auf diese Weise offenbart hat? Das wäre doch in jeder Hinsicht ein gutes Zeichen!«
Ein Schatten huschte über ihr Gesicht, und zu seiner Verwunderung ergriff sie seine Hand. »Denkst du, ich habe mir über all das nicht schon selbst Gedanken gemacht? Nur macht
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