Schwarze Tränen: Roman (German Edition)
Felsen zu der himmlischen Musik. Mehrere seiner Knochen fehlten, darunter einige Rippenbögen sowie Gliedmaßen seiner Finger. Trotzdem spürte Lukas bei dem Anblick weder Ekel noch Abscheu. Nicht einmal weiteres Erschrecken. Im Gegenteil. Das bizarre Schauspiel, das der einstige Erzbischof vor dem zunehmend bewölkten Nachthimmel darbot, war in einem kosmischen Sinne sogar … ästhetisch. Es wirkte wie wie eine Huldigung an das Leben selbst.
Mach schon!,
flüsterte eine leise Stimme im zunehmend stärker über die Lichtung wehenden Wind, die eindeutig die von Mephistopheles war.
Lukas schluckte. »Eure Exzellenz, versteht Ihr mich?«, rief er zu den Überresten von Wieds empor.
Das Skelett des Kirchenmannes hielt mitten im Tanz inne, sah sich langsam um und richtete seine hohlen Augen auf ihn.
Lukas wusste sich nicht zu helfen, doch fast war ihm, als würde der Tote da oben erst jetzt begreifen, dass er sich wieder unter den Sterblichen befand. »Eure Exzellenz«, versuchte er es noch einmal. »Wir brauchen Eure Hilfe. Die Welt steht kurz davor, der Apokalypse anheimzufallen.« Mutiger werdend und sich nur kurz zu den andächtig dastehenden Hexen umsehend, kletterte er wieder auf den Felsen hinauf. Der Wind ließ ihn frösteln; erste Regentropfen besprenkelten das Felsgestein. Lukas ignorierte den Wetterumschwung, und auch die Devils spielten selbstvergessen weiter.
Noch immer stierte ihn der Knochenmann an.
»Zwei der Teufelstränen wurden gefunden und zerstört«, haspelte Lukas. »Dämonen und Teufel bekämpfen einander. Wenn der dritte Adamant gefunden wird, öffnet sich das Höllentor. Dann kann uns Sterbliche nichts mehr vor der Hölle retten. Bitte«, verzweifelt ging er vor dem Skelett auf die Knie, »Ihr müsst uns mit Eurem Wissen um den letzten der Edelsteine beistehen. Wir wissen, dass Ihr Kenntnis von ihm hattet.«
Lukas hatte eine Prüfung erwartet. Sogar ein deutliches Nein. Doch nichts von alledem geschah. Stattdessen nickte das Skelett in feierlichem Gestus und starrte ihn an. Dann berührte es Lukas mit dem Knochenfinger an der Stirn.
Der wagte nicht, sich zu rühren. Doch er fühlte, dass ihm der Erzbischof ein Kreuz auf die feuchte Stirn malte. Erteilte er ihm etwa seinen Segen?
Das belebte Skelett wandte unvermittelt seinen Blick von ihm ab und fixierte jene Stelle, an der sich Mephistopheles versteckt hielt. Der Teufel richtete sich stolz zwischen den Schatten auf und erwiderte den Blick.
Unvermittelt bückte sich das Gerippe. Am Himmel über ihnen rumpelte es, und ein feiner Regenschleier ging nun auf die Lichtung nieder. Von Wied strich mit dem Knochenfinger über den zunehmend nasser werdenden Fels, fast so, als versuche er, dort das Moos abzukratzen.
»Ich verstehe nicht.« Verwirrt starrte Lukas den Toten an. Regenwasser sammelten sich an der Kieferleiste des Knöchernen.
Das Skelett wiederholte seine Bewegungen, und endlich begriff er, dass der einstige Erzbischof unsichtbare Buchstaben auf den Fels malte.
Lukas setzte sie zusammen und sprach das Wort fragend aus. »
Orphanus.
Richtig?«
Das Skelett nickte, dann malte es weitere Buchstaben auf das Gestein, die Lukas murmelnd zusammenfügte.
»Castrum etiam Cu…«
In diesem Augenblick zuckte ein greller Blitz über den Himmel und schlug krachend in eine der Tannen am Waldrand ein, die augenblicklich in Flammen aufging. Aufgeschreckt wirbelte Lukas herum, auch die Hexen erwachten aus ihrem entrückten Zustand. Das Spiel der Devils kam abrupt zum Erliegen, und von Wieds Knochenleib fiel klappernd in sich zusammen.
»Ich wusste, dass du nahst«, knurrte Mephisto ruhig und ohne sich umzudrehen.
»Tatsächlich?« Vor der brennenden Tanne schälte sich der Schatten eines Mannes ab, der lässig die von Felsen bedeckte Lichtung betrat. Faust!
Lukas wich entsetzt zurück. Doktor Fausts Seele steckte noch immer im halbverbrannten Körper Agrippa von Nettesheims. Jetzt trug er einen dunklen, gürtellosen Mantel, der ihm bis zu den Knöcheln reichte. Den Lederhut mit breiter Krempe hatte er sich tief in die Stirn gezogen, aber noch immer schimmerten die Zähne durch das brandige Loch in der Wange hindurch. Faust hielt in seiner Linken eine glosende Kristallkugel, die Lukas verdächtig vertraut war.
Sein Ahne musterte geringschätzig die Schar der Hexen, die ihn anfauchten, ihre Besen und Stecken hoben und nur auf das Zeichen zum Angriff zu warten schienen.
Der schwarze Pudel drehte sich nun doch zu Faust um, sprang auf einen der
Weitere Kostenlose Bücher