Schwarze Tränen: Roman (German Edition)
und marschierte auf den Kellerdurchbruch zu. Lukas und Abraham folgten ihr.
Das Knochenlabyrinth
F ast eine Stunde schlichen sie durch Gänge und Abzweigungen, bis das Licht von Abrahams Leuchtkristall unzählige grinsende Totenschädel aus der Dunkelheit riss. Die Schädel waren in einer großen, modrig riechenden Erdhöhle mittig zu einer Pyramide aufgetürmt und hatten einst zweifelsohne auf den Schultern von Menschen gesessen. Dürre Wurzeln stachen wie lange Finger von der Decke der Höhle, und nicht weit von dem gespenstischen Schädelturm entfernt waren zwei große Grabplatten in die Wand eingelassen.
»Was … was ist das hier?«, wollte Lukas wissen.
»Wir befinden uns unter dem alten jüdischen Friedhof von Worms«, knurrte Abraham. »Alle meine Versuche, die Ghule von hier zu vertreiben, waren nutzlos. Aber immerhin kann man sie von diesem Ort aus rufen.«
Lukas bemerkte im Halbdunkel einen übergroßen Blasebalg, der schräg hinter der Schädelpyramide aufragte. Das Ding bestand aus einer seltsamen grauen Tierhaut. Jedenfalls hoffte Lukas, dass es Tierhaut war.
Der Zauberer nickte Millepertia zu und trat an den Blasebalg heran.
»Hier.« Millepertia, deren helles Haar im Licht des Leuchtkristalls wie ein Heiligenschein schimmerte, reichte Lukas den Tarnmantel. »Besser, du versteckst dich und wartest ab, was wir mit Maghbars Hilfe in Erfahrung bringen. Diejenigen, die nicht der Gesellschaft der Zauberer und Hexen entstammen, betrachten die Ghule nämlich bloß als Futter.«
Lukas nickte, nahm den Tarnmantel an sich und streifte ihn über. Hoffentlich machte der Mantel nicht nur unsichtbar, sondern übertünchte auch Gerüche. Schließlich hatte Abraham erst vor wenigen Augenblicken die untrügliche Nase der Ghule gelobt.
»Dann los.« Abraham griff nach dem Blasebalg und betätigte ihn. Der Luftstrom fauchte gegen die Schädelpyramide, brach sich an Augenhöhlen, Kieferleisten und Zähnen und erzeugte einen tiefen, durchdringenden Ton, der Lukas eine Gänsehaut über den Rücken jagte. Abraham mühte sich einige Minuten ab, dann richtete er sich wieder auf, das unheimliche Heulen verebbte, und erwartungsvolle Stille legte sich über die Höhle.
Als Lukas es nicht mehr aushielt und gerade eine Bemerkung machen wollte, hörte er Kratzlaute hinter einer der Grabplatten. Im nächsten Moment knirschte es, und die Steine schwangen wie Türflügel auf. Zwei kauernde Schatten schlüpften in die Höhle, von deren Leibern ein süßlicher Verwesungsgeruch ausging. Lukas würgte den Entsetzenslaut, der ihm die Kehle hinauffuhr, nur mit Mühe hinunter. Stattdessen starrte er aus weit aufgerissenen Augen auf die Wesen, die sich im Schein von Abrahams Leuchtkristall langsam aufrichteten. Es waren zwei Ghule, die nun vor ihnen hockten – menschengroße Wesen mit räudigem Fell, überlangen Klauenarmen und Beinen, die einem Esel zur Ehre gereichten. Ihre kahlen Köpfe ähnelten denen von Hunden oder übergroßen Ratten; in ihren kleinen, lackschwarzen Augen funkelte die Verschlagenheit.
Der Ghul zur Rechten fuhr eine seiner langen Krallen aus und deutete auf Abraham von Worms. »Du bist der jüdische Zauberer, habe ich recht?« Seine Stimme klang ungelenk und kehlig. »Und dein Hexenmündel hast du ebenfalls mitgebracht.«
Der andere Ghul bleckte seine Reißzähne und beäugte Millepertia misstrauisch.
»Wir wollen mit Maghbar sprechen«, sagte Abraham unbeeindruckt.
Die Ghule scharrten mit ihren Hufen. »Ich befürchte«, hechelte der erste, »ihr werdet mit uns vorliebnehmen müssen.«
»Ich verhandle nicht mit Lakaien.«
Die Ghule warfen sich verärgerte Blicke zu. Lukas stockte der Atem, als der zweite sich unvermittelt auf alle viere fallen ließ und wie ein Hund in seine Richtung schnüffelte. Zitternd duckte er sich noch tiefer unter den Tarnmantel. »Seid ihr allein?«
»Das siehst du doch, Aasfresser«, bemerkte Millepertia schnippisch. Tatsächlich hockte sich der Ghul wieder auf seine Hinterbeine, sah sich aber noch immer misstrauisch um. Lukas, der den Atem angehalten hatte, atmete langsam und vorsichtig wieder aus.
»Also, wie sieht es aus: Wollt Ihr Geschäfte machen, oder sollen wir uns an Eure Verwandten im Norden wenden?« Abraham zückte eine Schachtel. »Staub von Moses’ Gesetzestafeln.«
Die Ghule leckten sich über die Schnauzen und starrten das Kästchen gierig an. »Moses, sagst du?«, hechelte der erste. »Gut, wir führen euch zu Maghbar. Aber wir können euch nicht
Weitere Kostenlose Bücher