Schwarze Träume: Ein Anita Blake Roman (German Edition)
hatte gar keine normalen Gedanken. Mir ist bisher nie klar gewesen, wie sehr mein Denken auf Dingen basiert. Ich denke immer daran, wie eine Sache die andere beeinflusst, denke immer an die Konsequenzen.« Ich zog mehr Zopf zu mir herüber; es war, als hätte ich eine Schlange im Arm, eine dicke, weiche Schlange. Ich raffte seine Haare zusammen und drückte sie an mich. Ich wollte näher zu ihm, aber der Gurt gab nicht weiter nach.
Mit dem Zopf an meiner Brust sagte ich: »Ich hab nicht mehr an den Kummer der Browns gedacht, nicht an ihren ermordeten Sohn. Dabei habe ich es nicht einmal bewusst ignoriert. Ich war nicht abgebrüht, es gehörte nur nicht mehr zu meiner Welt. Sie hatten mich verletzt, und ich bin wütend geworden, und die Wut bedeutete sofort Fressen. Wenn ich sie töte und fresse, können sie mir nicht mehr gefährlich werden. Und ich hatte Hunger.« Bei dem letzten Wort guckte ich ihn an.
Durch einen Lichtreflex leuchteten seine Augen kurz auf wie bei einer Katze im Scheinwerferkegel. Er drehte den Kopf, und sein Gesicht lag wieder im Dunkeln. Mit der Kopfdrehung spannte sich der Zopf, und ich musste entscheiden, ob ich ihn loslassen oder behalten wollte. Ich behielt ihn, obwohl er straff gespannt war.
Seine Stimme klang ein wenig unsicher, als er sagte: »Man hat immer Hunger nach dem ersten Gestaltwechsel, besonders wenn man neu ist.«
»Wie verhinderst du, dass du auf die Clubgäste losgehst?«, fragte ich, und meine Stimme klang genauso.
Er lehnte sich ein bisschen zurück, was die Spannung auf dem Zopf härter machte. »Indem ich den Hunger auf Sex lenke anstatt auf Futter. Man frisst nicht das Weibchen, mit dem man sich paart. Wenn man es ficken kann, ist es kein Futter.« Seine Stimme war tiefer als sonst.
»Wieso habe ich die Browns nicht gefressen? Ich hatte nicht vor, mich mit ihnen zu paaren.«
»Zu Anfang besteht man quasi nur aus Hunger, aber nach ein paar Vollmondnächten kann man dann schon denken, wenn auch nicht wie ein Mensch. Man denkt wie ein Tier. Wieder ein paar Vollmondnächte später kann man wählen, ob man wie man selbst oder wie das Tier denken möchte.«
»Wählen?« Ich begann, ihn an dem Zopf zu mir heranzuziehen, Hand über Hand wie an einem Seil, aber er leistete Widerstand. Er zog in die Gegenrichtung, und das tat bestimmt ein bisschen weh.
»Manche Leute genießen die Schlichtheit des Tieres«, sagte er mit tiefer, weicher Stimme. »Es kennt keine inneren Konflikte. Es will etwas und tut es.«
»Schnall dich ab«, sagte ich.
Er tat es.
Ich zog ihn mit dem Zopf, der um meinen Unterarm gewickelt war, zu mir. »Benutzt auch mal jemand sein Tier als Sündenbock, du weißt schon, um ein Verbrechen zu begehen? Viele Leute hält nur ihr Gewissen davon ab. Das Tier hat keins.«
Er lehnte in Kussnähe vor mir, sein Gesicht durch den gespannten Zopf ein bisschen unterhalb von meinem. »Das Tier verhält sich sehr pragmatisch«, flüsterte er. »Nur wenige Leute wechseln in die Tiergestalt, wenn sie einen Mord begehen wollen. Und ich meine damit nicht eine versehentliche Tötung, weil sie sich nicht im Griff haben, sondern ich rede von kaltblütig geplantem Mord.«
Ich beugte mich über ihn. »Zum Beispiel?«
»Angenommen dein Onkel wird ein Vermögen hinterlassen und du willst ihn jetzt schon beerben und ihn deshalb umbringen. Dein Tier wird ihn wegen des Geldes nicht zerreißen, weil es kein Geld kennt.«
Ich neigte mich bis dicht an seine Lippen. »Was kennt es stattdessen?«
»Es tötet jemanden, vor dem es Angst hat oder der es verletzt hat, vor allem körperlich. Angst und Verletzung versteht es.«
Fast hätte ich gefragt, ob er den Mann, der ihn und seinen Bruder damals dauernd verprügelt hatte, erlegt habe. Aber ich tat es nicht. Ich hatte seine Erinnerungen gesehen. Wenn mich jemand so behandelt hätte, was hätte ich dann getan? Schlimme Dinge höchstwahrscheinlich. Außerdem wollte ich mich jetzt nicht mit schlimmen Erinnerungen befassen. Ich hatte genug davon.
Ich küsste ihn, und er drückte mich gegen die Sitzlehne. Durch den Sicherheitsgurt konnte ich mich nicht gut bewegen, und ein Arm war von seinem Zopf umwickelt, sodass ich mir wie gefesselt vorkam. Kurz stieg Panik in mir hoch, dann entspannte ich mich. Nathaniel würde mir nichts tun, und ich war selbst schuld daran, dass ich keine Bewegungsfreiheit hatte. Ich selbst hatte sie mir genommen.
Er löste sich gerade so weit, dass er sprechen konnte, und streifte dabei meine Lippen. »Was ist
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