Schwarze Träume: Ein Anita Blake Roman (German Edition)
er immer wirken. Ob er breitere Schultern bekommen hätte oder noch gewachsen wäre, würden wir nie erfahren. Er konnte Gewichte stemmen und seinen Körper trainieren, und das hatte er auf Jean-Claudes Anweisung auch getan, doch er würde nie den Körper haben, den er bekommen hätte, wenn der Vampir, der ihn zu seinesgleichen gemacht hatte, noch ein, zwei Jahre damit gewartet hätte.
Seine Augen waren groß und hellgrau und dominierten das Gesicht. Sie hatten die Farbe einer dichten Nebelwand, in der man glaubt, keine Luft zu kriegen.
Ich musste den Kopf schütteln, um die Empfindung loszuwerden. Mist. Byron hätte mich mit seinem Blick beinahe willenlos gemacht. Das hätte eigentlich gar nicht passieren dürfen. Jean-Claude hatte gesagt, dass ich meine gesamte Abschirmung fallen gelassen hatte. Doch Byron war kein Jean-Claude. Ich sollte ihn aus mir raushalten können.
Ich schloss die Augen und benutzte eine Atemtechnik, die ich gelernt hatte. Man zieht sich in die Körpermitte hinein und richtet sich an einer Linie aus, die geradewegs in den Boden geht. Verankern nannte Marianne das, und so empfand ich es auch: mit beiden Füßen fest und sicher am Boden stehen.
Doch es fiel mir schwer, mich zu konzentrieren, weil ich Jean-Claudes Stimme hörte, und auch mit geschlossenen Augen wurde ich sie nicht los. »Wer unter Ihnen hat sich nicht schon einmal gewünscht, ein wildes Herz zu zähmen, einen Mann zu nehmen und ihn zu verändern? Ihn so zu verändern, wie Sie ihn haben wollen? Primo kniet vor Ihrer Schönheit und wird Wachs in Ihren Händen sein. Er wird sich ganz nach Ihren Wünschen richten.«
Ich fühlte, wie Jean-Claude zwischen mich und Primo trat. Selbst mit geschlossenen Augen und während ich mich am Boden verankerte, fühlte ich ihn wie eine Hand, die meine Konzentration wegfegte. Ich blickte auf und sah ihn Primos Gesicht berühren, ganz leicht. »Zeig ihnen deinen prächtigen Körper.«
Primo schüttelte den Kopf. Er wollte nicht mitspielen.
Ich spürte Jean-Claudes Willen, der sich wie ein Muskel um Primo legte und zudrückte. Ein Schwall Wärme ging auf den Hünen über. Unwillkürlich machte ich einen Schritt auf ihn zu, doch Byron zog mich zurück.
»Das würde ich dir nicht raten«, sagte er, und wieder fühlte ich den Zug seiner hellgrauen Augen, als würde ich in eine warme Decke gehüllt.
Primo stand auf und lenkte meine Aufmerksamkeit auf ihn zurück. Er packte mit beiden Fäusten sein schwarzes, blutgetränktes Hemd und riss es weg, als wäre es aus Papier. Mit nacktem Oberkörper stand er da und sah prachtvoll aus, wenn man auf Riesen stand. Er war wirklich enorm groß.
»Wer wird sein erster Kuss sein?«, fragte Jean-Claude.
Ich hörte Bewegung aus dem Publikum und drehte mich um. Dort war keine Angst mehr zu sehen; Jean-Claudes Stimme hatte sie ihnen genommen. Man sah nur noch Begierde, allenfalls Unsicherheit, als überlegten sie noch. Die ersten paar Hände mit Geldscheinen wurden gereckt, und sobald das passierte, wurden es mehr. Keine wollte die Erste sein, aber außen vor bleiben wollte auch niemand.
Byron zog mich sacht an der Schulter. »Wir müssen die Wunde verbinden, Anita. Gehen wir hinter die Bühne.«
»Er hat recht«, sagte Nathaniel, der näher gekommen war, so nah, dass ich die Blutspritzer auf seinem lavendelblauen Hemd sehen konnte. Offenbar hatte er von Primo etwas abgekriegt. Doch mit meinem Denken war es nicht weit her. Es kam mir vor, als wäre ich nicht mehr ganz ich selbst, seit ich in den Club gekommen war. Was war los mit mir?
Ich nickte. »Ja, okay, okay.«
Ich ging mit Byron und Nathaniel aus dem Saal, guckte dabei aber ständig über die Schulter. Die Brünette aus Nathaniels Fangemeinde schob die Hände über Primos Oberkörper. Seine Haut war glatt und sauber, kein Blut, keine Verletzungsspuren. Sie betatschte ihn, aber sein Blick war auf mich gerichtet und sandte eine stummen Hilferuf, aber ich verstand nicht, warum.
Jean-Claude berührte ihn am Rücken, und Primo wandte sich der Frau zu. Er schaute gar nicht mehr verwirrt und hilfebedürftig, sondern lüstern, und ich begriff, dass Jean-Claude ihn in seiner Gewalt hatte. Er manipulierte ihn noch mehr als das Publikum. Die Gäste waren gekommen, um ein bisschen lasziven Spaß zu erleben. Primo war gekommen, um Meister von St. Louis zu werden. Stattdessen wurde er nun Darsteller im Guilty Pleasures. Er küsste die Brünette, als wollte er sie einatmen, als wäre sie zu küssen das pure Glück.
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