Schwarze Träume: Ein Anita Blake Roman (German Edition)
an den Hinterkopf, um mich an seinen Mund zu ziehen, und wieder versank ich in seinem Kuss. Versank in seinem Puls und im Rhythmus seines Körpers, versank in der Flut seines Begehrens. Die Ardeur gestattete manchmal einen kurzen Einblick in die Gefühle des anderen oder zumindest in dessen Lustgefühle. Ich hatte gelernt, diesen Teil zu beherrschen, doch an diesem Abend war es, als wäre mir meine fragile Selbstbeherrschung entrissen worden, und ich war an Nathaniels feste Wölbungen gepresst, und nichts schützte mich vor ihm. Bisher war er immer sicheres Terrain gewesen. Er hatte nie einen Vorteil ausgenutzt, nie die Grenze überschritten, die ich gezogen hatte, weder mit Worten noch mit Taten. Jetzt plötzlich ignorierte er meine Signale, meine Mauer des Schweigens. Nein, er ignorierte sie nicht, er riss sie ein. Mit den Händen an meinem Körper, mit seinen Lippen auf meinem Mund, seinem Körper, der mich über die Tanzfläche schob. Gegen die Ardeur und Nathaniel kam ich nicht an, nicht gleichzeitig.
Ich verstand, was er wollte. Ich fühlte es. Fühlte seine Frustration, die Monate, wo er brav gewesen war, wo er sich benommen hatte, seinen Vorteil nie ausnutzte. Ich spürte das monatelange gute Benehmen in Scherben gehen, sodass wir entblößt dastanden und das Verlangen uns die Luft abschnürte und alles andere verdrängte. Erst in diesem Moment wurde mir klar, wie brav er gewesen war. Erst jetzt begriff ich, was ich zurückgewiesen, was er angeboten hatte. Bisher hatte ich gar nichts verstanden.
Ich löste mich ein Stück weit und legte die Hand an seine Brust, um ihn auf Abstand zu halten.
»Bitte, Anita, bitte, bitte«, flüsterte er drängend und brachte es nicht über sich, die Bitte in Worte zu fassen. Doch die Ardeur war darauf nicht angewiesen. Plötzlich spürte ich seinen Körper wieder, obwohl ein halber Schritt Abstand zwischen uns war. Er war so hart und fest und voller Sehnsucht. Denn ich hatte ihm die Erleichterung versagt. Monatelang. Ich hatte nie richtigen Sex mit ihm gehabt, weil ich die Ardeur auch ohne befriedigen konnte. Ich hatte mir nie Gedanken darüber gemacht, was das für Nathaniel bedeutete. Und jetzt spürte ich all seine schmerzliche Sehnsucht, die sich in den Monaten aufgebaut hatte. Beim vorigen Mal, wo ich seine Bedürfnisse so deutlich gespürt hatte, hatte er lediglich zu mir gehören wollen. Das wollte er noch immer, doch nun war körperliches Verlangen dazugekommen, ein fast verzweifeltes Verlangen. Ein Verlangen, das ich missachtet hatte. Das ich sogar geleugnet hatte. Jetzt ließ Nathaniel kein Leugnen oder Ignorieren mehr zu.
Einen Moment lang konnte ich klar denken, weil ich ein schlechtes Gewissen hatte. Ein schlechtes Gewissen, weil ich ihn mit seinem Verlangen so lange im Stich gelassen hatte, während meine Bedürfnisse befriedigt wurden. Richtigen Sex mit ihm zu haben hieße, ihn ausnutzen, hatte ich immer gedacht. Doch bei diesem plötzlichen Einblick in seine Gefühle begriff ich, dass ich ihn auf diese Weise mehr ausgenutzt hatte, als es beim Geschlechtsverkehr der Fall gewesen wäre. Ich hatte Nathaniel benutzt wie ein Sexspielzeug, das man hinterher abwäscht und weglegt. Plötzlich schämte ich mich. Ich schämte mich, weil ich ihn wie ein Objekt behandelt hatte, während er ganz anders betrachtet werden wollte.
Meine Schuldgefühle wirkten wie eine kalte Dusche, wie eine Ohrfeige, und damit konnte ich die Ardeur zurückdrängen, wenigstens für ein oder zwei Stunden.
Nathaniel schien zu spüren, wie mich die Leidenschaft verließ. Er blickte mich aus großen lavendelblauen Augen an, und in ihnen glänzten Tränen. Er ließ meine Arme los, und da ich die Hände längst zurückgezogen hatte, standen wir auf der Tanzfläche voreinander, und keiner machte Anstalten, das Tanzen wiederaufzunehmen.
Die erste Träne rollte über seine Wange.
»Nathaniel«, sagte ich und hob die Hand zu einer tröstenden Berührung.
Doch er schüttelte den Kopf und wich einen Schritt zurück, dann noch einen, dann drehte er sich um und rannte. Jason und Micah versuchten ihn aufzuhalten, doch er wich ihren Händen mit einem anmutigen Schwenk des Oberkörpers aus, sodass sie ins Leere griffen. Er rannte nach draußen und sie hinter ihm her. Aber nicht sie hätten ihm nachlaufen müssen, sondern ich. Ich hätte mich entschuldigen sollen. Das Problem war, dass mir nicht ganz klar war, wofür. Weil ich ihn benutzt hatte oder weil ich ihn nicht genug benutzt hatte?
9
D ie
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