Schwarzer Kuss Der Nacht
blutenden Daumen. Folglich schlief sie nicht. Das war gut, sah man einmal davon ab, dass somit auch alles andere real war.
Dennoch spornte der Gedanke sie an, und sie bewegte sich näher auf den Spiegel zu. Die Botschaft leuchtete ihr entgegen. Sie streckte ihre Hand aus und berührte die kalte, harte Glasoberfläche. Aus nächster Nähe bemerkte Mai, wie ihr eigenes Spiegelbild in einem weißen wirbelnden Dunst verschwand. Irgendetwas befand sich inmitten dieser Wirbel.
Ein Gesicht.
Erschreckend vertraut. »Sarah?« Mai sah genauer hin und erkannte, wie Sarahs Lippen ihren Namen formten.
»Mmmmmaaaaiiii, hiiiiilffff miiir!«
Es war, als sähe sie Jennas Traumerinnerung: Sarah, die auf der anderen Seite des Spiegels gefangen war.
Mai dachte gar nicht mehr an ihren blutenden Daumen und drückte beide Hände gegen den Spiegelrahmen, wie Jenna es getan hatte. Aber im Gegensatz zu Jenna war Mai keine Hexe. Sie konnte keinen Zauber sprechen, der Sarah befreite.
»Wie bekomme ich dich da raus?«, brüllte sie so laut sie konnte.
Sarah sah sie flehentlich an, bewegte die Lippen, doch Mai konnte kein Wort erkennen.
»Denk nach, denk nach!«, ermahnte Mai sich und starrte weiter in den Spiegel. Ein dunklerer Schatten bewegte sich im Hintergrund, und instinktiv wusste sie, dass es schlecht war, wenn der Schatten Sarah erreichte.
»Verdammt!« Sie blickte sich nach etwas Schwerem um, mit dem sie den Spiegel zerschlagen konnte. Als sie bereits einen der Esszimmerstühle hob, dessen Gewicht prüfte und befand, dass er geeignet wäre, wenn sie ihn fest genug gegen das Glas donnerte, brachte eine Bewegung von Sarah sie dazu, innezuhalten.
»Okay, verstanden. Ich darf das Glas nicht zerbrechen«, murmelte sie, stellte den Stuhl wieder hin und erinnerte sich erst jetzt, was in Jennas Traum passiert war.
Sie nahm den Spiegel von der Wand und sah auf die Rückseite. Nirgends gab es eine Öffnung. Falls Mai noch irgendwelche Zweifel daran gehegt haben sollte, dass es sich bei dem Spiegel um ein magisches Portal handelte, waren diese jetzt ausgeräumt.
Die Schattengestalt hinter Sarah kam näher. »Ich wünschte,ich könnte einfach reingreifen und dich herausziehen!«, murmelte sie gegen ihre aufsteigende Panik an.
Kaum hatte sie das letzte Wort gesprochen, löste das Glas sich auf, und Mai sah direkt in Sarahs ängstliches Gesicht.
»Spring, Sarah!«, schrie sie und griff nach der Hand des Mädchens. Mit einem kräftigen Zug hatte sie Sarah durch die Öffnung gezogen, und sie beide stürzten rücklings auf den Esstisch. Sarah rappelte sich gleich wieder auf.
»Er ist direkt hinter mir!«, rief sie und zeigte auf den Spiegel. »Wirf die Kette!«
Mai griff nach dem Blitz, zögerte jedoch. Die Worte, die sie gesagt hatte, bevor das Glas verschwand, Jennas Erinnerung und das Blut an ihrem Daumen ergaben ein klares Bild. Sie presste den blutigen Daumen auf den Spiegelrahmen und sprach: »Ich wünschte, der Spiegel würde versiegelt!«
Sofort bildete das Glas auf der Öffnung sich neu. Durch es hindurch sah Mai, wie der dunkle Schatten sich vorwärtsbewegte, gegen das Glas stieß und zurückfiel.
»Kann er raus?«, fragte sie.
»Nicht, wenn wir seinen einzigen Ausgang zerstören«, antwortete Sarah. »Tritt zurück!« Sie packte den Stuhl, der ihr am nächsten war, und knallte ihn gegen den Spiegel.
Mai schlug die Hände vor ihr Gesicht, um sich vor den Scherben zu schützen, die in alle Richtungen flogen. Von dem Spiegel blieb nichts außer dem Rahmen und Tausenden von Glassplittern auf dem Teppich übrig.
Immer noch bebend vor Schreck, drehte Mai sich zu dem Mädchen um. »Bist du es wirklich?«
Sarahs Lippen zitterten, als sie in Mais Arme fiel.
»Schon gut!«, beruhigte Mai sie. »Jetzt bist du in Sicherheit.«
»Es war so furchtbar!«, schluchzte Sarah.
»Was ist passiert?«
»Ich stand hier und habe gewartet, dass du mir diese Bücher holst. Und dann kam eine Hand aus dem Spiegel und hat mich einfach hineingezogen.«
»Wessen Hand war das? Was war das für ein Ding?«
Sarah kniff die Augen zusammen. »Es war ein Dschinn.«
Mai war nicht sicher, ob sie richtig gehört hatte. »So wie der aus Aladins Wunderlampe?«
»Dieser hier ist keine Kindermärchengestalt«, antwortete Sarah finster. »Er ist uralt und sehr, sehr mächtig.«
Mai überlegte, dass er Sarah entführt und die ganze Zeit hinter dem Spiegel gefangen gehalten hatte. »Hat er dir etwas getan?«, erkundigte sie sich.
»Nein, mir geht es gut.«
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