Schwarzer Mittwoch
Schwester ist tot«, entgegnete Karlsson in sanftem Ton. Er hatte plötzlich das Gefühl, Ruth Lennox verteidigen zu müssen, auch wenn er selbst nicht recht wusste, warum.
Der Säugling wachte auf, verzog das Gesicht und stieß ein mitleiderregendes Japsen aus. Louise Weller nahm ihn hoch, knöpfte seelenruhig ihre Bluse auf und legte ihn an die Brust, wobei sie Karlsson einen herausfordernden Blick zuwarf, als käme es ihr gerade recht, wenn er es wagen sollte, etwas dagegen zu sagen.
»Lassen Sie uns also über diesen konkreten Fall reden«, schlug Karlsson vor, während er versuchte, weder auf die nackte Brust zu starren noch allzu krampfhaft in eine andere Richtung zu sehen, »über Ihre ermordete Schwester Ruth, die eine Affäre hatte. Davon haben Sie also nichts gewusst?«
»Nein.«
»Sie hat nie etwas zu Ihnen gesagt, das Sie, rückblickend betrachtet, auf den Gedanken hätte bringen können, dass da etwas am Laufen war?«
»Nein.«
»Sagt Ihnen der Name Paul Kerrigan etwas?«
»Heißt der Kerl so? Nein, diesen Namen habe ich noch nie gehört.«
»Haben Sie je irgendwelche Anzeichen dafür bemerkt, dass Ihre Schwester Eheprobleme hatte?«
»Ruth und Russell waren immer ein Herz und eine Seele.«
»Sie hatten nie den Eindruck, dass etwas nicht stimmte?«
»Nein.«
»Demnach ist Ihnen auch nie aufgefallen, dass Mister Lennox ein Alkoholproblem hat?«
»Was? Russell? Ein Alkoholproblem?«
»Ja. Sie haben davon nichts mitbekommen?«
»Nein! Ich habe ihn noch nie betrunken erlebt. Aber man hört ja immer, dass das eigentliche Problem die heimlichen Trinker sind.«
»Und Sie haben rückblickend auch nicht das Gefühl, dass er Bescheid wusste?«
»Nein.« Ihre Augen glänzten. Sie wischte sich an ihrer Schürze die Hände ab. »Aber ich frage mich, warum er es mir nicht erzählt hat, als er davon erfuhr.«
»Es ist nicht so leicht, über so etwas zu sprechen«, meinte Karlsson.
»Wissen seine Kinder Bescheid?«
»Ja.«
»Trotzdem haben sie sich mir nicht anvertraut. Die Ärmsten. So etwas über die eigene Mutter zu erfahren!« Sie musterte Karlsson voller Abscheu. »In Ihrem Beruf müssen Sie sich ja fühlen, als würden Sie einen Stein nach dem anderen aufheben, um die Leute damit zu bewerfen. Ich weiß nicht, wie Sie das fertigbringen.«
»Irgendjemand muss es ja tun.«
»Es gibt Dinge, über die man besser nichts weiß.«
»Wie die Affäre Ihrer Schwester, meinen Sie?«
»Ich nehme an, nun wird die ganze Welt davon erfahren.«
»Ich fürchte, da haben Sie recht.«
Nachdem Karlsson in seine Wohnung zurückgekehrt war, räumte er das letzte bisschen Unordnung auf, das seine Kinder hinterlassen hatten. Er konnte gar nicht mehr nachvollziehen, dass er sich je darüber aufgeregt hatte. Inzwischen erfüllte es ihn nur noch mit wehmütiger Zärtlichkeit: die winzigen Plastikfiguren in den Ritzen des Sofas, die nassen Schwimmsachen auf dem Badezimmerboden, die in den Teppich getretenen Pastellkreiden. Er zog die Betten der beiden ab, steckte die Bettwäsche in die Waschmaschine und tippte anschließend, bevor er es sich anders überlegen konnte, Friedas Nummer. Am anderen Ende der Leitung meldete sich eine Stimme, die er zunächst nicht erkannte.
»Hallo. Mit wem spreche ich?«
»Chloë.« Im Hintergrund war so lautes Geklopfe zu hören, dass er sie kaum verstand. »Und wer sind Sie?«
»Malcolm Karlsson«, erklärte er förmlich.
»Der Detective.«
»Ja.«
»Soll ich Frieda holen?«
»Nein, nicht nötig. Es ist nicht so eilig.«
Nachdem er aufgelegt hatte, kam er sich einen Moment vor wie ein Narr. Dann tippte er eine andere Nummer.
»Hallo, Sadie am Apparat.«
»Hier ist Mal.«
Sadie war die Cousine eines Freundes von Karlsson. Im Lauf der Jahre war er ihr ein paarmal begegnet, zusammen mit seiner Frau oder Sadies gerade aktuellem Freund. Das letzte Mal hatten sie sich ein paar Wochen zuvor bei einem Essen getroffen. Damals waren sie beide ohne Begleitung gewesen und zufällig zur selben Zeit aufgebrochen. Bei der Gelegenheit hatte Sadie vorgeschlagen, sich doch mal auf einen Drink zu treffen.
»Darf ich dich wie besprochen auf einen Drink einladen?«, fragte er nun.
»Was für eine wunderbare Idee«, antwortete sie. Jetzt wusste er wieder, was ihm an ihr immer so gut gefallen hatte: ihre ehrlich zum Ausdruck gebrachte Begeisterung und ihre unverhohlene Sympathie für ihn. »An wann hattest du denn gedacht?«
»Wie wär’s mit jetzt gleich?«
»Jetzt gleich!«
»Aber du bist
Weitere Kostenlose Bücher