Schwarzer Mittwoch
zu befragen. Er arbeitete in Teilzeit für eine Softwarefirma, deren Geschäftsräume sich in einem umgebauten Lagerhaus ganz in der Nähe der Shoreditch High Street befanden. Er war ein großer, dünner Mann mit auffallend kleinen Pupillen und fast gelben Augen. Er hatte knochige Handgelenke und lange Finger mit Nikotinflecken. Sein feines braunes Haar war so kurz geschoren, dass Yvette die V-förmige Narbe sehen konnte, die sich von seinem Scheitel bis knapp über sein filigranes linkes Ohr zog. Er hatte einen Schmollmund und schön geschwungene Augenbrauen, wie sie sonst eher bei Frauen zu finden waren. Außerdem registrierte Yvette einen Nasenstecker und eine Tätowierung, die gerade noch aus seinem Hemd hervorblitzte. Alles an ihm widersprach sich: Er wirkte zugleich weich und rau, kraftlos und aggressiv, älter, als er war, aber auch viel jünger. Er roch nach Blumen und Tabak, trug ein pastellgrünes Hemd und klobige Kampfstiefel. Er wirkte auf eine seltsame Weise attraktiv und zugleich ein wenig unheimlich. Yvette fühlte sich in seiner Gegenwart unansehnlich und zutiefst unsicher.
»Mir ist klar, dass es rein theoretisch gegen das Gesetz verstößt …«
»Nein, es verstößt definitiv gegen das Gesetz.«
»Wie kommen Sie darauf, dass wir tatsächlich Sex hatten?«
»Laut Judith Lennox schlafen Sie miteinander. Falls sie lügt, sollten Sie das jetzt sagen.«
»Woher wollen Sie wissen, dass mir bekannt war, wie alt sie ist?«
»Wie alt sind Sie denn?«
»Achtundzwanzig.«
»Judith Lennox ist fünfzehn.«
»Sie sieht älter aus.«
»Dreizehn Jahre sind ein großer Altersunterschied.«
»Jude ist eine junge Frau. Sie hat ihren eigenen Kopf.«
»Sie ist noch ein Mädchen.«
Er zuckte nur ganz leicht mit einer Schulter.
»Es geht dabei doch nur um Macht, meinen Sie nicht auch?«, entgegnete er. »Das Gesetz ist dazu da, den Missbrauch von Macht zu verhindern. In unserem Fall ist das nicht relevant. Soweit ich das sehe, sind wir zwei erwachsene Menschen, die in gegenseitigem Einvernehmen miteinander schlafen.«
»Das ändert nichts an der Tatsache, dass sie noch minderjährig ist. Sie haben sich eines Vergehens schuldig gemacht.«
Ein Anflug von Nervosität durchbrach die glatte Oberfläche. Er verzog das Gesicht.
»Bin ich deswegen hier?«
»Sie sind hier, weil ihre Mutter umgebracht wurde.«
»Hören Sie, das mit ihrer Mutter tut mir wirklich leid, aber ich verstehe nicht, was ich damit zu tun haben soll.«
»Haben Sie Misses Lennox je kennengelernt?«
»Ich habe sie mal gesehen . Kennengelernt habe ich sie nicht.«
»Sie wusste nichts von Ihnen?«
»Jude war der Meinung, sie würde das nicht verstehen. Ich habe ihr da nicht widersprochen.«
»Sind Sie sicher, dass Sie und Judiths Mutter einander nie richtig begegnet sind?«
»Ich glaube, daran würde ich mich erinnern.«
»Und Sie glauben, Misses Lennox war nicht bekannt, dass ihre Tochter einen Freund hatte?«
»Nicht dass ich wüsste.«
»Hatte sie vielleicht doch einen Verdacht, dass es da jemanden geben könnte?«
»Wie gesagt, ich habe die Frau nie kennengelernt. Warum fragen Sie nicht Jude?«
»Ich frage Sie«, gab Yvette kurz angebunden zurück. Er bedachte sie mit seinem angedeuteten Lächeln.
»Soviel ich weiß, hatte sie keinen Verdacht. Aber Mütter besitzen ja oft einen siebten Sinn für so etwas, nicht wahr? Vielleicht merkte sie doch, dass etwas in der Luft lag.«
»Wo waren Sie an dem Abend, an dem sie ermordet wurde – am Mittwoch, dem sechsten April?«
»Wie bitte? Glauben Sie wirklich, ich würde die Mutter meiner Freundin umbringen, nur damit sie nicht dahinterkommt, dass ich etwas mit ihrer Tochter habe?«
»Immerhin handelt es sich um einen Gesetzesverstoß, für den Sie ins Gefängnis kommen könnten.«
»Was soll der ganze Mist? Jude ist fast sechzehn und kein kleines Mädchen mit Zöpfen und aufgeschlagenen Knien. Sie haben sie doch gesehen. Jude ist einfach umwerfend. Ich habe sie in einem Nachtklub kennengelernt – wo übrigens nur Leute über achtzehn reindürfen und jeder an der Tür seinen Ausweis vorzeigen muss.«
»Wie lange sind Sie schon mit ihr liiert?«
»Was verstehen Sie unter liiert?«
»Also bitte, beantworten Sie einfach meine Frage.«
Er schloss die Augen. Yvette fragte sich, ob er von dort, wo er saß, ihre Feindseligkeit spüren konnte.
»Ich kenne sie erst seit neun Wochen«, erklärte er. »Noch nicht sehr lang, oder?«
»Und sie nimmt die Pille?«
»Solche Sachen müssen
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