Schwarzer Mittwoch
der drei Geschwister konnte den anderen helfen oder sich von ihnen helfen lassen, ging Frieda durch den Kopf. Die drei warteten einfach nur ab, während Chloë durchs Haus lief und sie mit Tee versorgte oder sie aufzumuntern versuchte.
Frieda trat hinaus auf die Terrasse. Ted ließ sich auf der Bank nieder und nahm die Kopfhörer ab. Sie fragte ihn, ob er wolle, dass sie jemanden anrief, woraufhin er ihr sein mürrisches Gesicht zuwandte.
»Wen zum Beispiel?«
»Zum Beispiel deine Tante.«
»Soll das ein Witz sein?«
»Habt ihr keine anderen Verwandten?«
»Doch, einen Onkel in den Staaten. Der wird uns nicht viel nützen, oder? Nein, es gibt nur noch uns und Dad, und wenn er nicht da ist, haben wir gar niemanden.«
Sie blieb eine Weile neben ihm sitzen. Die kühle Nachtluft tat ihr gut. Sie hatte das Gefühl, dass in ihrem Leben nichts mehr nach den Regeln der Vernunft ablief. Alles war außer Kontrolle geraten: ihr Haus, wo sie früher stets Zuflucht vor dem Chaos der Welt gefunden hatte, ebenso wie ihre Beziehung zu diesen jungen Menschen, die sich an sie gewandt hatten, als würde sie Antworten kennen, die es gar nicht gab – ganz zu schweigen von ihrer Arbeit für die Polizei, in die sie auf eine schleichende Weise wieder hineingezogen worden war, und ihrer beharrlichen Beschäftigung mit der Schattenwelt des vermissten Mädchens Lila. Am meisten aber machte ihr zu schaffen, dass sie das Gefühl hatte, einer Stimme zu folgen, die nur sie hören konnte – dem Echo eines Echos eines Echos. Und dann gab es da noch Dean Reeve, ihren Wächter. Sie dachte an Sandy, dessen Tag erst halb rum war, und wünschte, dieser Tag wäre endlich vorbei.
48
A m nächsten Morgen weckte Frieda alle früh auf und lud sie zu einem Frühstück in die Nummer 9 ein – eine chaotische, verschlafen aussehende Bande angsterfüllter Teenager, die an dem Tag eher kindlich als erwachsen wirkten. Ihre Mutter war ermordet worden, ihr Vater saß in Untersuchungshaft, und nun warteten sie darauf, wie das alles ausgehen würde.
Nach dem Frühstück brachte Frieda ihre Schützlinge zum Bus, wartete, bis er losfuhr, und kehrte dann nach Hause zurück. Sie selbst fühlte sich äußerst erschöpft und niedergeschlagen, hatte aber trotzdem etwas zu erledigen. Josef baute in Primrose Hill gerade eine Gartenmauer, und Sasha war in der Arbeit, also machte Frieda sich allein auf den Weg. Von der Liverpool Street aus fuhr sie mit dem Zug stadtauswärts, durch die halb fertigen Stadien und Sporthallen des Olympic Park, die aussahen wie Spielsachen, zurückgelassen von einem Riesenkind. An der Station Denham stieg Frieda in ein Taxi um.
Ein Pferdegnadenhof, der nach einer Blume benannt war, ging ihr durch den Kopf. Sie hatte an sanft geschwungene Felder und Wälder gedacht. Das Taxi fuhr an einem großen Komplex teilweise abgerissener Lagerhäuser vorbei, dann an einer Wohnsiedlung. Als der Wagen schließlich zum Stehen kam und der Fahrer verkündete, sie seien da, dachte Frieda erst, sie wäre bei einer falschen Adresse gelandet, doch in dem Moment entdeckte sie das Schild: Pferde- und Eselhof Sonnenblume . Der Fahrer fragte sie, ob er auf sie warten solle. Frieda verneinte und erklärte ihm, sie werde wahrscheinlich eine Weile brauchen, woraufhin er ihr eine Visitenkarte mit seiner Nummer gab.
Während der Wagen davonfuhr, blickte sie sich um. Am Eingang stand ein Gebäude mit Kieselrauputz. Die Fassade wies tiefe Risse auf, und bei einem der oberen Fenster war eine kaputte Scheibe durch Pappe ersetzt worden. Das Gebäude wirkte verlassen. An der Wand seitlich des Eingangs hing ein weiteres Schild, auf das mit Schablone geschrieben stand: »Besucher bitte zur Anmeldung.« Frieda ging weiter an der Seitenwand des Gebäudes entlang. Als sie schließlich um die Ecke bog, lag vor ihr ein großer Innenhof, gesäumt von Stallgebäuden aus Beton und Porenbetonstein. Einen Anmeldungsbereich konnte sie allerdings nicht entdecken. Auf dem Hof türmten sich Berge aus Pferdeäpfeln und Strohballen, und auf einer Seite stand ein rostender Traktor, an dessen vorderen Felgen die Reifen fehlten. Zögernd setzte Frieda ihren Weg fort, wobei sie vorsichtig ein paar braune, schlammige Pfützen umrundete.
»Ist jemand da?« rief sie.
Frieda hörte ein kratzendes Geräusch. Aus einem der Stalltore trat ein Mädchen im Teenageralter, das eine Schaufel in der Hand hielt und mit Gummistiefeln, Jeans und einem leuchtend roten T-Shirt bekleidet war. Das Mädchen
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