Schwarzer Mond: Roman
er in letzter Zeit keinen Lebenszweck mehr sah, war schon schlimm genug. Viel schlimmer war jedoch die Einsicht, dass er seit acht Jahren keinen wirklich lohnenden Lebenszweck gehabt, diese Tatsache aber erfolgreich verdrängt hatte.
Er fuhr ziellos durch die Straßen von Manhattan, weil es ihm widerstrebte, in seine Wohnung zurückzukehren.
Nach kurzer Zeit fand er sich auf der Fifth Avenue wieder, und als er sich St. Patrick's näherte, gab er einem plötzlichen Impuls nach und parkte verbotenerweise auf dem Gehweg vor dem Hauptportal der riesigen Kathedrale. Er stieg aus dem Auto, ging zum Kofferraum, öffnete ihn und holte aus dem großen Plastikmüllsack ein halbes Dutzend gebündelter Zwanzigdollar-Pakete hervor.
Es war natürlich töricht, einen Wagen falsch geparkt an einer so auffälligen Stelle stehenzulassen, wenn man mehr als eine Drittelmillion gestohlenen Geldes im Kofferraum hatte, außerdem auch noch Waffen und ein illegal erworbenes SLICKS.
Wenn ein Polizist nun anhielt, um einen Strafzettel auszustellen, aus irgendeinem Grund misstrauisch wurde und darauf bestand, das Auto zu durchsuchen, würde Jack geliefert sein. Aber das war ihm im Augenblick ziemlich egal. In gewisser Weise war er ein toter Mann, der noch umherging, so wie Jenny lange Zeit eine tote Frau gewesen war, die noch atmete.
Obwohl er kein Katholik war, zog Jack eine der schweren, mit Reliefen verzierten Bronzetüren von St. Patrick's auf und betrat das Kirchenschiff. In den vorderen Bankreihen knieten betend einige Leute; ein alter Mann zündete eine Votivkerze an. Jack betrachtete ein Weilchen den prächtigen Baldachin über dem Hauptaltar, dann ging er zu den Opferstöcken für die Armen, zog die Bündel mit Zwanzigdollarscheinen unter seiner Winterjacke hervor, riss die Papierbanderolen auf und stopfte die Geldscheine in die Behälter, so als würfe er Abfall in Müllcontainer.
Als er gleich darauf die Granitstufen der Kirche hinabging, blieb er plötzlich abrupt stehen, denn irgendwie kam ihm die nächtliche Fifth Avenue verändert vor. Während vereinzelte große Schneeflocken träge im Schein der Straßenlaternen und der Autoscheinwerfer umherwirbelten, begriff Jack allmählich, dass er zum erstenmal seit seiner Rückkehr aus Mittelamerika wieder für die rätselhafte Faszination dieser Riesenstadt empfänglich war. Irgendwie kam sie ihm mit einem Male reiner vor als seit Jahren, und sogar die Luft schien frischer geworden zu sein.
Er wusste natürlich, dass die Stadt sich in den letzten Minuten nicht verändert hatte, dass es die gleiche Stadt war wie vor einer Stunde -oder wie am Vortag. Aber nach seiner Rückkehr aus Mittelamerika war er ein anderer Mann gewesen als jener, der fortgegangen war; er war einfach unfähig gewesen, an der Metropolis -und an allen anderen Werken der ihm verhassten Gesellschaft -etwas Gutes zu sehen. Er hatte seine eigene verdorrte, ausgebrannte, verfaulte innere Landschaft auf die Stadt projiziert und sie deshalb nur noch als verkommen, degeneriert und trostlos empfunden.
Jack stieg wieder in seinen Camaro, fuhr zur Sixth Avenue, von dort zum Central Park, gelangte wieder auf die Fifth Avenue und fuhr sie scheinbar ziellos in südlicher Richtung entlang, bis die Presbyterianerkirche vor ihm auftauchte. Wieder parkte er auf dem Gehweg, holte Geld aus dem Kofferraum und ging in die Kirche hinein.
Hier gab es keine Opferstöcke wie in St. Patrick's, aber Jack entdeckte einen jungen Hilfsgeistlichen, der gerade dabei war, die Türen für die Nacht abzuschließen. Jack zog aus verschiedenen Taschen Bündel von Zwanzig-und Zehndollarscheinen hervor und gab sie dem verblüfften Geistlichen mit der Erklärung, er habe in den Casinos von Atlantic City ein Vermögen gewonnen.
Er hatte in den beiden Kirchen 30.000 Dollar geopfert. Aber das war nicht einmal ein Zehntel seines Anteils an dem Überfall auf den Panzerwagen, und diese Spenden vermochten seine Schuldgefühle nicht zu lindern. Im Gegenteil, seine Gewissensbisse wurden immer quälender. Der Geldsack im Kofferraum war für ihn etwas Ähnliches wie das unter Fußbodendielen begrabene Herz in der Poe'schen Erzählung - ein mahnender Verkünder seiner Schuld; und er wollte das Geld möglichst schnell loswerden, genauso wie Poes Erzähler möglichst schnell den belastenden Herzschlag seines zerstückelten Opfers zum Schweigen bringen wollte.
330.000 Dollar waren noch übrig. Für einige New Yorker würde Weihnachten diesmal zweieinhalb Wochen
Weitere Kostenlose Bücher