Schwarzer Mond: Roman
wirklich aus der Vergangenheit zu ihnen, setzte Corvaisis seinen Bericht fort. »Sie sitzt in der Ecknische am Fenster, mit dem Gesicht in diese Richtung. Die Sonne geht gerade unter, steht am Horizont wie ein großer roter Ball, und das Lokal ist mit orangefarbenem Licht erfüllt, das durch die großen Fenster einfällt. Ginger Weiss sieht in diesem Licht besonders bezaubernd aus. Es fällt mir schwer, sie nicht anzustarren ... Dämmerung bricht herein. Ich habe mir ein zweites Bier bringen lassen.«
Er trank einen Schluck Dos Equis. Mit leiserer Stimme fuhr er fort: »Die Ebenen sind purpurrot ... dann schwarz ... es wird Nacht ...«
Wie Ernie, Faye und Sandy, so war auch Ned fasziniert von der Schilderung des Schriftstellers, denn allmählich stiegen nun in ihm eigene schwache Erinnerungen an jenen besonderen Abend einen von vielen, die er im Tranquility Grille verbracht hatte auf: der junge Priester, der vom Polaroid-Foto, und das junge Ehepaar mit dem süßen kleinen Mädchen.
»Nicht lange nach Einbruch der Dunkelheit ... ich trinke mein zweites Bier so langsam wie möglich, um Ginger Weiss noch ein Weilchen ansehen zu können ...«
Corvaisis schaute nach links und rechts, legte seine rechte Hand ans Ohr. »Irgendein ungewöhnliches Geräusch. Ein fernes Grollen ... es wird immer lauter.«
Er schwieg eine Weile. »Ich kann mich nicht erinnern, was dann geschah ... Etwas ... etwas ... aber es fällt mir nicht ein ...«
Als der Schriftsteller von fernem Grollen sprach, glaubte Ned Sarver sich ebenfalls an dieses erschreckende, langsam anschwellende Geräusch zu erinnern, aber nur äußerst verschwommen. Es war ein Gefühl, als hätte Corvaisis ihn an den Rand einer finsteren Kluft geführt, in die hinabzublicken er sich fürchtete, in die er aber unbedingt hinabblicken musste, und als würden sie sich nun von dieser Kluft abwenden, ohne mit einer Lampe in die dunkle Tiefe hineingeleuchtet zu haben. Er hatte Herzklopfen und sagte eindringlich: »Konzentrieren Sie sich ganz auf das Geräusch, das genaue Geräusch, vielleicht fällt Ihnen dann auch alles übrige ein.«
Corvaisis schob seinen Stuhl vom Tisch zurück und erhob sich. »Ein Grollen ... wie Donner, sehr ferner Donner ... der allmählich näher kommt ...«
Er stand neben dem Tisch und versuchte festzustellen, aus welcher Richtung das Geräusch gekommen war, blickte nach links, nach rechts, nach oben, nach unten.
Plötzlich hörte Ned dieses Geräusch, nicht in seiner Erinnerung, sondern in der Realität, nicht damals in der Vergangenheit, sondern jetzt. Das dumpfe Grollen fernen Donners. Aber es waren keine Donnerschläge mit dazwischenliegenden Pausen, sondern ein anhaltendes Rollen, und es wurde immer lauter und lauter ...
Ned sah erschrocken die anderen an. Auch sie hörten es.
Lauter. Lauter. Jetzt spürte er die Vibrationen in seinen Knochen.
Er konnte sich nicht erinnern, was an jenem Abend vor anderthalb Jahren geschehen war, aber er wusste, dass die erstaunlichen Ereignisse mit diesem Geräusch begonnen hatten.
Er stieß seinen Stuhl zurück, sprang auf. Angst stieg in ihm auf, und er wäre am liebsten weggerannt.
Sandy stand ebenfalls auf, und auch in ihr Gesicht stand Angst geschrieben. Obwohl die unbekannten Ereignisse für sie ausschließlich positive Auswirkungen gehabt hatten, fürchtete sie sich und legte eine Hand auf Neds Arm.
Ernie und Faye runzelten die Stirn und versuchten, die Ursache des Lärmes ausfindig zu machen, schienen aber noch keine Angst zu haben. Offenbar waren ihre Erinnerungen an dieses Geräusch gründlicher ausgelöscht worden, und es war für sie deshalb nicht mit den Ereignissen jenes Freitagabends verknüpft.
Das donnerartige Grollen wurde jetzt von einem eigenartigen heulenden Pfeifton begleitet, und auch das kam Ned unangenehm bekannt vor.
Es geschah wieder. Was auch immer an jenem Abend vor mehr als achtzehn Monaten passiert war - es wiederholte sich, es fand noch einmal statt, und Ned hörte sich schreien: »Nein! Nein! Nein!«
Corvaisis wich einige Schritte vom Tisch zurück, warf Ned und den anderen einen kurzen Blick zu. Er war völlig weiß im Gesicht.
Das anschwellende Dröhnen ließ das Fensterglas hinter den geschlossenen Jalousien erzittern. Eine lose Scheibe begann in ihrem Rahmen zu klirren. Auch die Jalousien klapperten jetzt misstönend.
Sandy umklammerte Neds Arm.
Ernie und Faye sprangen auf, und jetzt waren sie nicht mehr nur verwirrt, sondern fürchteten sich wie alle
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