Schwarzer Mond: Roman
einen halben Kilometer in östliche Richtung und parkte sodann auf dem Randstreifen in der Nähe jener Stelle, die auf Ernie und Sandy eine solche Anziehungskraft ausübte. Die fünf Personen standen an der Leitplanke und blickten nach Süden, betrachteten die Landschaft, die ihnen möglicherweise irgendwelche Aufschlüsse über die Vergangenheit geben konnte. Das winterliche Sonnenlicht war fast so hart und kalt wie das Licht von Leuchtstoffröhren. Drei Farben herrschten vor auf dieser Hochebene mit den gefurchten Hügeln, den trockenen Flussbetten und bizarren Felsformationen: Braun, Grau und Dunkelrot in verschiedenen Abstufungen, und dazwischen gelegentlich einzelne weiße Farbtupfer -Sand, Schnee oder eine Boraxader. Unter einem Himmel, der sich immer stärker mit grauen Wolken zuzog, wirkte die Szenerie öde und düster, aber zugleich hatte sie etwas Majestätisches, Ehrfurchtgebietendes an sich.
Faye wünschte sich von Herzen, dass dieser Ort auch auf sie irgendeine besondere Wirkung ausüben sollte; denn wenn sie überhaupt nichts spürte, so würde das bedeuten, dass die Leute, die sie einer Gehirnwäsche unterzogen hatten, sie total beherrscht - geistig vergewaltigt - hatten. Und die Vorstellung einer vollständigen Unterwerfung war unvereinbar mit dem Bild, das sie von sich selbst hatte. Sie war eine stolze, tatkräftige Frau. Aber sie spürte nichts, nichts außer dem Winterwind.
Ned und Dom schienen genauso ungerührt zu sein wie sie selbst, aber sie sah, dass Ernie und Sandy von jenem Stück Land irgendeine verschlüsselte Botschaft erhielten. Sandy lächelte verzückt. Ernie hingegen sah jetzt genauso aus wie bei Einbruch der Nacht: Er war bleich und angespannt, und seine Augen hatten einen gehetzten Ausdruck.
»Gehen wir näher heran!« sagte Sandy. »Gehen wir direkt zu jener Stelle.«
Alle fünf stiegen über die Leitplanke und kletterten die steile Böschung am Rand der erhöht angelegten Autobahn hinab. Sie gingen über die Ebene - fünfzig Meter, hundert - und bemühten sich, nicht in die stacheligen Pflanzen zu treten, die in der Nähe der Interstate wuchsen, aber bald schon von Beifuss und braunen Grasbüscheln abgelöst wurden, die ihrerseits wieder einer anderen -ebenfalls braunen, aber dickeren und weicheren Grassorte Platz machten. Manche Abschnitte der Ebene waren steinig und sandig und nur mit vereinzelten stacheligen Büschen bewachsen; andere Abschnitte hingegen sahen wie richtige kleine Wiesen aus. In diesem Landstrich ging die Halbwüste des Südens allmählich in die fruchtbaren Bergweiden des Nordens über. Etwa 200 Meter von der Interstate entfernt, blieben die fünf Menschen an einer Stelle stehen, die sich äußerlich in nichts von ihrer Umgebung unterschied.
»Hier ist es«, sagte Ernie schaudernd; er schob seine Hände in die Taschen und zog seinen Kopf in den hochgestellten Kragen seiner Lammfelljacke ein.
Sandy bestätigte lächelnd: »Ja, hier ist es.«
Sie gingen -jeder für sich -hin und her. An vereinzelten Stellen, die vor dem trockenen Wind und der kalten Sonne geschützt waren, lag etwas Schnee. Diese schwachen Spuren des Winters und das Fehlen von grünem Gras und wilden Blumen das war auch schon alles, wodurch sich diese Landschaft zu dieser Jahreszeit vom Sommer unterschied. Fast genauso musste sie im vorletzten Sommer ausgesehen haben. Nach wenigen Minuten erklärte Ned, dass er tatsächlich eine unerklärliche Beziehung zu diesem Ort empfinde, dass dieses Stück Land auf ihn aber keineswegs die friedliche Ausstrahlung habe wie auf seine Frau. Seine Angst nahm kurz darauf solche Ausmaße an, dass er sich -überrascht und verlegen wegen seiner heftigen Reaktion -rasch entfernte. Während Sandy ihm nacheilte, gestand Dom, dass diese Stelle auch ihn stark berühre. Im Gegensatz zu Ned hatte Dom jedoch nicht nur Angst, sondern er war auch - wie Ernie -erfüllt von Ehrfurcht und dem Gefühl einer dicht bevorstehenden Epiphanie. Nur Faye blieb weiterhin völlig unbeeindruckt.
Dom drehte sich langsam im Kreis. »Was war hier los? Verdammt, was hat sich hier nur ereignet?«
Der ganze Himmel war jetzt schiefergrau.
Der Wind frischte auf. Faye fröstelte.
Sie spürte nichts von all dem, was Ernie und die anderen an diesem Ort empfanden, und das verstärkte ihr Gefühl, geistig vergewaltigt worden zu sein. Sie hoffte, dass sie den Leuten, die ihr Gehirn manipuliert hatten, eines Tages begegnen würde. Sie wollte ihnen in die Augen sehen und sie fragen, wie sie
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