Schwarzer Mond über Soho: Roman (German Edition)
in der St. Giles Street erreichten.
»Gut«, seufzte Postmartin, als wir uns in einem, wie ersagte, »Sitzeckchen« niedergelassen hatten. »Thomas ist noch nicht da. Über manches redet es sich viel leichter mit einem Sherry in der Hand.«
Das weckte unangenehme Erinnerungen. Wenn man ein Junge ist, scheint das Leben mehr oder weniger aus einer unregelmäßigen Abfolge unangenehmer Gespräche zu bestehen, die verschiedene Erwachsene einem widerstrebend angedeihen lassen, um einem Dinge zu erklären, die man entweder schon längst weiß oder lieber gar nicht wissen will.
Er bestellte sich seinen Sherry, ich nahm eine Limo.
»Ich vermute, Sie wissen, was für ein unerhörtes Ereignis es ist, dass Thomas einen Lehrling angenommen hat?«
»Das haben mir schon einige Leute zu verstehen gegeben.«
»Ich denke, vielleicht hätte er diesen Schritt schon früher unternehmen sollen. Spätestens als feststand, dass die Behauptungen, die Magie sei tot, heillos übertrieben waren.«
»Woran merkten Sie das denn?«
»Ein Anhaltspunkt war, dass Thomas begann, rückwärts zu altern«, sagte Postmartin. »Ich archiviere auch Dr. Walids Befunde, und das, was ich davon verstanden habe, klingt … merkwürdig.«
»Muss ich mir Sorgen machen?« Ich hatte mich erst vor kurzem an den Gedanken gewöhnt, dass mein Chef im Jahr 1900 das Licht der Welt erblickt hatte und sich nach eigenen Angaben seit Anfang der siebziger Jahre wieder verjüngte. Nightingale vermutete, es könnte mit dem generellen Anstieg magischer Aktivität seit den Sechzigern zu tun haben, wollte aber einem geschenkten Gaul nichtzu genau ins Maul schauen. Ich konnte es ihm nicht verübeln.
»Ich wünschte, ich wüsste es«, sagte Postmartin. Er griff in seine Tasche und gab mir seine Karte. Darauf standen seine Telefonnummer, Mailadresse und überraschenderweise sogar eine Twitteradresse. »Sie können mich gern benachrichtigen, wenn Ihnen irgendetwas Sorgen macht.«
»Und was tun Sie dann?«
»Ich werde mir Ihre Sorgen anhören«, sagte er. »Und mitfühlende Worte äußern.«
Es dauerte noch über eine Stunde, bis Nightingale auftauchte. Ich durfte zusehen, wie er sich ein ganzes Pint Bitter zu Gemüte führte, während er uns das Ergebnis seiner Nachforschungen präsentierte – das im Wesentlichen darin bestand, dass Jason Dunlop während seiner Studienzeit offenbar keinen Kontakt zu Geoffrey Wheatcroft gehabt hatte.
Nightingale hatte sich eine Liste aller Studenten und Lehrpersonen ausdrucken lassen, die zur selben Zeit wie Jason am Magdalen gewesen waren. Außerdem eine Liste aller Studenten, die jemals ein Seminar bei Geoffrey Wheatcroft besucht hatten. Beides zusammen ergab einen Stapel Papier von genau der richtigen Dicke, dass man damit einen Verdächtigen zu einem Geständnis bewegen konnte, ohne blaue Flecken zu hinterlassen. Falls man darin seine Berufung als Gesetzeshüter sah. Wenn man HOLMES mit diesen Daten fütterte, würden sie automatisch mit allen Namen abgeglichen werden, die im Zuge der konventionellen Ermittlung aufgetaucht waren. Die Mordkommission unter Stephanopoulos hatte mindestens drei zivile Mitarbeiter, deren einzige Aufgabe darin bestand, solchenervtötenden, zeitraubenden, aber ganz essenziellen Arbeiten zu erledigen. Und das Folly? Sie können sich denken, wen das Folly hatte, und er war überhaupt nicht begeistert von der Aussicht.
Postmartin fragte Nightingale, was er als Nächstes vorhatte. Nightingale zog eine Grimasse und nahm noch einen Schluck von seinem Bier. »Ich dachte, ich hole die verbliebenen Bibliothekskarten aus Ambrose House. Es wird Zeit, dass wir nachprüfen, wo die restlichen Bücher herkommen.«
Wir nahmen die Ausfahrt Nr. 5 von der Autobahn, fuhren durch Stokenchurch, eine Klinik mit einem recht hübschen angebauten Dörfchen drumherum, und bogen dann auf eine Landstraße ab, die sich bald zu einem einspurigen Sträßchen zwischen hohen grünen Wällen, sehr alten Feldhecken, verjüngte.
»Ein Großteil des Besitzes ist an hiesige Bauern verpachtet«, sagte Nightingale. »Gleich kommt auf der linken Seite das Tor.«
Hätte er mich nicht vorgewarnt, ich wäre daran vorbeigerauscht. Abrupt wich die Hecke einer hohen Steinmauer mit einem breiten schmiedeeisernen Tor. Ich hielt an. Nightingale stieg aus, gefolgt von Toby, öffnete das Tor mit einem großen eisernen Schlüssel und schob es auf, wobei es ein astreines Horrorfilm-Kreischen von sich gab. Toby ließ es sich nicht nehmen, den
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