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Schwarzer Schmetterling

Schwarzer Schmetterling

Titel: Schwarzer Schmetterling Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernard Minier
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abgesehen von dem Vergnügen Ihrer Gesellschaft?«
    »Nichts«, sagte sie ganz freimütig. »Überhaupt nichts. Ich behaupte gar nicht, ich könnte in irgendeiner Weise Ihr Leid lindern. Im Übrigen leiden Sie ja gar nicht. Ich habe Ihnen nichts anzubieten, einmal abgesehen, wie Sie sagen, von dem Vergnügen meiner Gesellschaft. Aber ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie sich bereit erklären würden, sich mit mir zu unterhalten.«
    Weder Liebedienerei noch Lüge – sie sagte sich, dass sie sich nicht schlecht aus der Affäre gezogen hatte. Er fasste sie scharf ins Auge.
    »Hm, Offenheit …« Sein Blick wanderte von Diane zu Xavier. »Etwas Seltenes hier. Nehmen wir an, ich erklärte mich einverstanden, worin bestünden diese …
Gespräche?
Ich hoffe, dass Sie nicht beabsichtigen, mich psychoanalytisch zu zerlegen. Ich sage es Ihnen gleich: Das wird nicht funktionieren. Nicht bei mir.«
    »Nein, ich meine echte Gespräche. Wir werden uns den unterschiedlichsten Themen zuwenden – ganz nach Ihrer Wahl.«
    »Da müssten wir allerdings erst einmal gemeinsame Interessen haben«, meinte er ironisch.
    Sie ging nicht darauf ein.
    »Erzählen Sie von sich«, sagte er. »Wie sieht Ihr beruflicher Werdegang aus?«
    Sie erzählte es ihm. Sie erwähnte die Fakultät für Psychologie und Erziehungswissenschaften an der Universität Genf, das Institut für Rechtsmedizin, die Privatpraxis, in der sie gearbeitet hatte, und das Gefängnis von Champ-Dollon, wo sie ein Praktikum als Psychologin gemacht hatte.
    Er nickte langsam und legte sehr ernst einen Finger auf die Unterlippe, als hielte er eine Prüfung ab. Sie verbiss sich ein Lächeln. Sie rief sich in Erinnerung, was er jungen Frauen in ihrem Alter angetan hatte, und die Lust zu lachen verging ihr.
    »Ich nehme an, dass Sie in dieser speziellen und für Sie neuen Umgebung eine gewisse Furcht empfinden«, sagte er.
    Er stellte sie auf die Probe. Er wollte wissen, ob ihr Verhältnis auf Gegenseitigkeit beruhen würde. Er wollte nicht, dass ihre Gespräche eine Einbahnstraße wären, wo er redete und sie nur zuhörte.
    »Ja, die Angst vor einer neuen Stelle, einer neuen Gegend, neuen Verantwortlichkeiten«, sagte sie. »Das ist beruflicher Stress. Ich sehe darin etwas Positives, was einen weiterbringt.«
    Er nickte.
    »Wenn Sie es sagen. Wie Sie wissen, neigt jede Gruppe, die eingesperrt ist, zur Regression. Hier betrifft die Regression nicht nur die Insassen«, sagte er, »sondern auch die Mitarbeiter – und sogar die Psychiater. Sie werden sehen. Es gibt hier drei ineinandergeschachtelte Schutzgehäuse: der Schutzbehälter dieser Irrenanstalt, die Sicherheitshülle dieses Tals und die Schutzhülle des Dorfes unten im Tal – all diese Schwachköpfe, die von Generationen von Verwandtenehen, Inzest und innerfamiliärer Gewalt ausgelaugt sind. Sie werden sehen. In einigen Tagen, einigen Wochen werden Sie wieder zum Kind werden, zu einem kleinen Mädchen, das am liebsten an seinem Daumen lutschen würde …«
    Sie las in seinen kalten Augen die Lust, etwas Obszönes zu sagen, aber er nahm sich zusammen. Er hatte eine eiserne Erziehung genossen … Plötzlich ging ihr auf, dass Hirtmann sie mit seiner strengen Ausstrahlung an ihren Vater erinnerte, auch äußerlich als der kultivierte alternde Schönling mit den ersten grauen Fäden in seinem braunen Haar.
    Die gleichen straffen Lippen und Wangen, die gleiche etwas zu lange Nase, der gleiche intensive Blick, der sie maß und beurteilte. Sie spürte, dass sie versagen würde, wenn sie diesen Gedanken nicht verjagte.
    Anschließend fragte sie sich, wie dieser selbe Mann Orgien veranstalten konnte, die für ihre Gewalttätigkeit bekannt waren. Hirtmann hatte nicht ein Ich, sondern viele.
    »Woran denken Sie?«
    Nichts entging ihm. Sie musste das bedenken. Sie beschloss, so offen zu sein, wie sie es konnte – ohne jemals die therapeutische Distanz zu vergessen.
    »Sie erinnern mich ein bisschen an meinen Vater«, sagte sie.
    Zum ersten Mal wirkte er verunsichert. Sie sah ihn lächeln. Sie bemerkte, dass dieses Lächeln sein Aussehen vollkommen veränderte.
    »Wirklich?«, sagte er, aufrichtig überrascht.
    »Man spürt bei Ihnen die gleiche typische schweizerische bürgerliche Bildung, die gleiche Zurückhaltung und Strenge. Sie strahlen eine protestantische Gesinnung aus, selbst wenn Sie sie längst abgelegt haben. All diese Schweizer Großbürger, die wie doppelt verschlossene Panzerschränke sind. Ich fragte mich, ob

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