Schwarzer Schmetterling
sofort entkräftet und ihn nach Hause geschickt.«
Dr. Xavier blieb mitten auf dem Gang stehen und sah sie erstaunlich ernst an.
»Wir leben in einer Epoche der institutionalisierten Gewalt gegenüber den Schwächsten und der beispiellosen politischen Lügen«, sagte er düster. »Die gegenwärtigen Regierungen und ihre Diener verfolgen alle ein doppeltes Ziel: Der Mensch soll zur Ware degradiert und die Gesellschaft soll kontrolliert werden.«
Servaz sah den Psychiater an. Er dachte im Grunde ganz ähnlich. Aber trotzdem fragte er sich, ob die Psychiater im Zeitalter ihrer Allmacht nicht selbst den Ast abgesägt hatten, auf dem sie saßen, indem sie alle möglichen – weniger wissenschaftlich als ideologisch fundierten – Experimente mit oftmals verheerenden Folgen durchführten, deren Versuchskaninchen Menschen waren.
Im Vorbeigehen sah Servaz zwei weitere Wachleute im orangefarbenen Overall, die in einem verglasten kleinen Nebenraum saßen.
Dann tauchte zu ihrer Rechten die Cafeteria auf, die sie schon auf den Bildschirmen gesehen hatten.
»Die Cafeteria für das Personal«, stellte Xavier klar.
Keine Fenster hier, sondern hohe Glasscheiben, die den Blick freigaben auf die Landschaft aus Schnee und die mit warmen Farben bemalten Mauern. Eine Handvoll Personen plauderten bei einer Tasse Kaffee. Anschließend kamen sie durch einen Raum mit hoher Decke und lachsfarbenen Wänden, die mit großen Landschaftsfotos geschmückt waren. Billige, aber offenbar bequeme Sessel waren so angeordnet, dass sie ruhige und gemütliche kleine Winkel bildeten.
»Das Besuchszimmer«, sagte der Psychiater. »Hierher ziehen sich die Angehörigen mit ihren internierten Verwandten zurück. Natürlich richtet sich dieses Angebot nur an die am wenigsten gefährlichen Insassen, was hier nicht sehr viel bedeutet. Eine Kamera überwacht die Begegnungen, und die Pflegehelfer sind nie weit weg.«
»Und die anderen?«, fragte Propp, der sich zum ersten Mal zu Wort meldete.
Xavier musterte den Psychologen mit Bedacht.
»Die meisten bekommen überhaupt keinen Besuch«, antwortete er. »Dies ist weder eine psychiatrische Klinik noch eine Justizvollzugsanstalt im üblichen Sinne. Dies hier ist ein Pilotprojekt, das in ganz Europa einzigartig ist. Unsere Patienten kommen aus allen möglichen Ländern. Und all unsere Patienten sind extrem gewalttätig: Vergewaltigungen, Misshandlungen, Folter, Morde … begangen an Familienangehörigen oder Fremden. Alle sind Mehrfachtäter. Alle auf Messers Schneide. Wir bekommen nur die feinste Gesellschaft«, fügte Xavier mit einem seltsamen Lächeln hinzu. »Nur wenige Menschen wollen daran erinnert werden, dass es unsere Patienten überhaupt gibt. Vielleicht wurde das Institut ja aus diesem Grund in einer so abgeschiedenen Gegend angesiedelt. Ihre letzte Familie sind wir.«
Servaz fand diesen letzten Satz ein bisschen hochtrabend – wie übrigens fast alles an Dr. Xavier.
»Wie viele Sicherheitsstufen gibt es?«
»Drei, je nach der Gefährlichkeit unserer Klienten: leicht, mittel und hoch. Diese Einstufung entscheidet nicht nur über die Zahl und das Leistungsprofil der Sicherheitssysteme sowie die Anzahl der Wachleute, sondern auch über die Behandlung und die Beziehungen zwischen den Therapieteams und den Insassen.«
»Wer beurteilt die Gefährlichkeit der Neuankömmlinge?«
»Unsere Teams. Wir verbinden klinische Gespräche, Fragebögen und natürlich die Lektüre der Akten, die wir von unseren Kollegen erhalten, mit einer revolutionären neuen Beurteilungsmethode, die aus meinem Heimatland stammt. Wir haben übrigens einen Neuankömmling, der gerade jetzt begutachtet wird. Folgen Sie mir.«
Er führte sie zu einer Treppe, deren große Betonplatten unter ihren Schritten vibrierten. Als sie den ersten Stock erreichten, standen sie vor einer mit einem feinen Metallnetz verstärkten Glastür.
Diesmal musste Xavier nicht nur einen Code in ein kleines Tastenfeld eingeben, sondern auch seine Hand auf einen biometrischen Sensor legen.
Ein Schild über der Tür verkündete:
»Sektor C: Geringe Gefährlichkeit – Zutritt nur für Mitarbeiter der Kategorien C, B und A«
»Ist das der einzige Zugang zu dieser Zone?«, fragte Ziegler.
»Nein, es gibt eine zweite Sicherheitsschleuse am Ende des Gangs, durch die man in die nächste Zone gelangt – die mittlere Sicherheitsstufe; diese Schleuse können ausschließlich Mitarbeiter, die für die Sektoren B und A zugangsberechtigt sind,
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