Schwarzes Blut
daß Ray in Stücke zerrissen wurde.
»Er ist tot«, sagt Joel.
»Ich verstehe.« Ich richte mich auf und huste schwach. Joel reicht mit ein Glas Wasser. Als ich mir den Glasrand an die Lippen führe, wird die klare Flüssigkeit von einem roten Tropfen eingefärbt. Es ist eine blutige Träne. Das hier muß eine wirklich besondere Situation sein.
Joel zögert. »War er dein Freund?«
Ich nicke.
»Es tut mir leid.«
Weiterhelfen können mir seine Worte auch nicht. »Sind beide Tankwagen explodiert, an beiden Seiten des Lagerhauses?«
»Ja.«
»Hast du gesehen, ob nach der Explosion noch jemand herausgerannt ist?«
»Nein. Ziemlich unmöglich. Es war ein Inferno. Die Polizei ist immer noch dabei, den Schauplatz zu untersuchen, und hat dabei jede Menge verkohlter Leichen entdeckt. Sie haben die ganze Gegend abgeriegelt.« Er macht eine Pause. »Hast du die Tankzüge hochgehen lassen?«
»Ja.«
»Warum?«
»Um die Leute im Gebäude umzubringen. Das waren die Mörder, hinter denen du her bist. Ich will jetzt aber nicht darüber sprechen. Was ist mit dem anderen Mann? Ich meine den, der bei mir und meinem Freund gestanden hat. Ist er davongekommen?«
»Keine Ahnung, wo er hin ist. Er war einfach plötzlich weg.«
»Oh.« Das heißt also, er ist davongekommen.
»Wer war dieser Mann?« will Joel wissen.
»Ich bin sicher, daß du das weißt.«
»Edward Fender?«
Ich nicke. »Eddie.«
Joel lehnt sich im Stuhl zurück und schaut mich an. Mich, eine junge Frau, deren Körper vor zwölf Stunden zerfetzt worden ist, und die jetzt bis auf ein paar blutige Tränen wieder gesund erscheint. Durch das gesprungene Fenster hindurch erkenne ich den dunklen Himmel, das Flackern der Neonlampen kündet den Beginn einer neuen, langen Nacht an. Er will, daß ich ihm erkläre, warum. Ich stelle mir selbst aber doch die gleiche Frage. Warum hat es fünftausend Jahre gedauert, bis ich wieder jemandem begegnet bin, den ich lieben konnte? Und warum wurde er mir nach nur sechs Wochen wieder entrissen?
Warum Zeit und Raum, Krishna? Du baust diese Wände um uns herum auf und schließt uns dann in ihnen ein. Vor allem dann, wenn die, die wir lieben, von uns gehen. Dann sind die Wände zu hoch, und ganz gleich, wie sehr wir uns zu springen bemühen: Wir können nicht über sie hinausblicken. Alles, was uns dann bleibt, sind Wände, die auf uns herabstürzen.
Ich glaube nicht an meinen Traum. Das Leben ist kein Lied. Es ist ein Fluch, und meines ist länger als das aller anderen.
»Wie ist bei dir alles so schnell wieder verheilt?« fragt mich Joel.
»Ich sagte dir doch: Ich bin kein normaler Mensch.«
Er schaudert: »Bist du überhaupt ein Mensch?«
Ich wische mir die blutigen Tränen aus dem Gesicht und lache bitter. Was war das in meinem Traum? Das, wo es hieß, ich wollte anders sein als die anderen? Wie ironisch – und wie blödsinnig. Es war, als sei ich ein Kind, das abends zu Bett geht und seine Mutter darum anbettelt, doch bitte, bitte noch einen Alptraum haben zu dürfen.
»Normalerweise würde ich sagen: nein«, gebe ich zurück. »Aber da ich hier gerade weine und das ja nun eine Sache ist, die Menschen oft tun, sollte ich vielleicht sagen: doch.« Ich blicke auf meine blutbefleckten Hände und spüre, daß auch sein Blick auf ihnen ruht. »Was glaubst du denn?«
Er nimmt meine Hände und mustert sie genauer. Er kann immer noch nicht fassen, daß sein Realitätssinn gerade einen tiefen Knacks abbekommen hat.
»Du blutest. Du mußt immer noch verletzt sein.«
Ich ziehe die Hand zurück und mache eine wegwerfende Bewegung.
»Ich bin eben so. Das ist normal für mich.« Erneut muß ich mir die Wangen abwischen. Ich kann diese Tränen einfach nicht aufhalten. »Wohin ich auch gehe, was ich auch anfasse … immer ist Blut im Spiel.«
»Sita?«
Mit einem Ruck richte ich mich auf. »Nenn mich nicht so! Ich bin nicht sie, verstehst du? Sie ist seit langem tot. Ich bin dieses Ding, das du vor dir siehst. Dieses … dieses blutige Ding!« Obwohl ich nichts anhabe, stehe ich auf und gehe ans Fenster. Dabei trete ich auf meine verbrannte Kleidung, die in einem Haufen am Boden liegt. Er muß sie mir abgekratzt haben; der Stoff ist mit verkohltem Fleisch verklebt. Ich ziehe den Vorhang weiter beiseite und blicke in eine Gegend, die mir, verglichen mit der Welt in meinem Traum, so fremd erscheint wie eine andere Milchstraße. Weit weg vom Lagerhaus können wir nicht sein. Wir sind jedenfalls noch im selben Viertel, noch immer in Feindesland. »Was er wohl
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