Schwarzes Gold Roman
Renate sich um und betrachtete
dieses Bild der Unschuld, dieses faltenfreie Gesicht eines fehllosen Kindes,
das schlafend auf dem Kissen lag. Ein beinahe ironisches Bild der
Verletzlichkeit und Naivität. Und weil dieses Kind von einem Mann nicht
irgendwer, sondern ein ganz spezieller Bruder war, hatte er auch Gewicht in
ihrem Leben. Deshalb schlich sie an jenem Sonntagmorgen nicht aus der
Schlafzimmertür. Vielleicht ahnte sie, dass es ein Fehler war, doch sie tat es
dennoch. Sie kroch zurück unter die Decke, legte den Kopf auf dem Kissen
zurecht und schlief ein.
16
Es war ein grauer Tag, Montag der fünfte August. Vebjørn
Lindeman stand an dem riesigen Fenster und starrte hinaus auf den inneren
Oslofjord. Eine der Fähren von Nesodden war auf dem Weg in den Hafen. Durch
die Wellen des Kielwassers schaukelte ein kleines Sightseeingschiff.
Hauptthema der Nachrichten war das Flugzeugunglück in Fort
Worth, Texas, gewesen. 132 Tote. Vebjørn machte sich Gedanken darüber, wie
machtlos man als Passagier an Bord eines Flugzeugs war. Er dachte über das
Rätsel des Zufalls nach und fragte sich, ob es wirklich Ereignisse gab, die
man als zufällig betrachten konnte. Er dachte an die Passagiere und den
Schrecken, der ihre Körper gelähmt haben musste, in der Sekunde bevor es
krachte: die Angst vor dem Tod – oder die Angst um ihre Nächsten, Kinder
oder Partner, die in Zukunft ohne ihre Hilfe zurechtkommen mussten. Alle
Ereignisse haben, aus der richtigen Perspektive gesehen, eine logische
Erklärung, überlegte er. Der Begriff der Zufälligkeit entsteht, wenn die
Perspektive auf eine Folge von Ereignissen sich ändert. Was, wenn ich
verschlafen und das Flugzeug verpasst hätte?, könnte sich der eine Passagier
fragen. Was, wenn das Reisebüro mich auf den Flug einer anderen
Fluggesellschaft gebucht hätte? Die Anwesenheit eines jeden Einzelnen an Bord
der Maschine konnte als Zufall und Ungerechtigkeit angesehen werden, weil man
voraussetzt, dass ein Flugzeug nicht abstürzt – jedenfalls nicht das, in dem
man selbst sitzt. Voraussetzungen ändern sich, dachte Vebjørn, während er in
seinem formidablen Büro am Fenster stand, in dem mächtigen Gebäude, von dem
aus er die Wellen betrachten konnte, die die Nesodden-Fähre hinter sich
herzog, wie einen Knick auf dem Wasser, der sich auf das Land zu bewegte.
Voraussetzungen ändern sich, weil wir Menschen unser Leben nicht selbst
steuern sollen. Weil wir, nach allen Diskussionen über freien Willen und
anderen von Menschen gemachten Problematiken, am Ende doch Gott unterstellt
sind – oder etwas, das manche Schicksal nennen. Er überlegte, dass seine
Position derart dominierend und in ihrer aalglatten Geschäftsmäßigkeit so
faltenfrei war, dass Gott es bald an der Zeit finden müsste, ihn
zurechtzuweisen. Gott würde irgendeine der Voraussetzungen ändern, die sein
Leben bestimmten.
Da klingelte das Telefon.
»Hier ist Dagfinn Bløgger, vom Magazin
Avanse
. Mir
liegt hier die Kopie eines Briefes vor. Ich hätte dazu gern den Kommentar des
Konzernchefs.«
»An wen ist der Brief gerichtet?«
»Er ist unterzeichnet von Brede Gran von der Riebergruppe
und an die Osloer Börse sowie die 11 000 Aktionäre der Spenning AS
adressiert.«
»Dann müssen Sie mir den Brief erst mal vorlesen,
Bløgger.«
»Gut, ja«, Bløgger räusperte sich und las: »Bis dato
besitzt D/S Rieber AS 325 600 Aktien der Firma Spenning AS und konnte bei der
letzten durchgeführten Emission des Konzerns für weitere 103 500 Aktien
zeichnen. Rieber möchte seine Anteile auf 50,1 Prozent des gesamten
verfügbaren Aktienkapitals ausweiten. Es werden 225 norwegische Kronen pro
Aktie geboten.«
Während Dagfinn Bløgger las, spürte Vebjørn, wie ihm der
Schweiß auf die Stirn schoss. Er dachte an Georg Spenning. Er dachte an Brede
Gran, und seine Meinung über ihn vor zwölf Jahren. Er dachte an die
Auseinandersetzung, die er damals mit Georg gehabt hatte. Er dachte, dass die
Zeit manchmal wie ein schwerer Teig wirken kann, der sich verändert, wenn man
ihn knetet. Einzelheiten und Bruchstücke aus der Vergangenheit tauchen auf, in
leicht gewandelter Gestalt, in anderer Form. Sein Blick fand die braune,
versiegelte Miniaturflasche Løitens Aquavit, die vor der Gesetzessammlung
stand, im dritten Regal von unten, gleich neben der Tür.
»Wie lautet der Kommentar des Konzernchefs von Spenning
AS?«, fragte Dagfinn Bløgger.
»Arbeitet Brede
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