Schwarzes Gold Roman
Jahre älter als wir. Sie sind
schon ewig zusammen.«
Sie standen einander gegenüber und sahen sich an.
»Schade«, sagte Anders.
»Aber Renate ist super in Ordnung«, sagte der Junge. »Ich
heiße Vidar«, fuhr er fort. »Wahrscheinlich fragst du dich, was mit meinem
Auge los ist. Alle tun das. Das Problem ist der Muskel im Augenlid. Er ist
gelähmt. Ich kann sehen, wenn ich die Gardine aufmache, weißt du.« Er hob
das Augenlid mit einem Finger an und verdrehte die Augen. »Auf was für Musik
stehst du denn so?«
»Du kannst ja mit zu mir kommen«, sagte Anders. »Und mal
gucken.«
4
Tun sich Schauspieler nicht irgendwas in die Augen, damit sie
tränen?«, fragte Liv. Sie und Vebjørn hatten noch einmal die Wiederholung
von Ibsens
Nora – Ein Puppenheim
im Fernsehen angesehen. Wieder
einmal erörterten sie Lise Fjellstads Interpretation der Nora Helmer.
»Doch«, sagte Vebjørn. Er griff nach dem Kartenspiel und
begann eine Karte nach der anderen auf den Tisch zu legen. »Aber ich bin
sicher, dass sie erst im linken und dann im rechten Auge eine Träne hatte, und
so etwas ist mit Filmtricks nicht zu machen.«
»Dann hat sie also echte Tränen geweint?«
»Ja«, murmelte Vebjørn abwesend. »Sie hat wohl echte
Tränen geweint.«
Liv wandte sich wieder ihren Ahnenforschungsdokumenten zu,
ohne den Text wirklich zu lesen. Düster und niederschmetternd kreisten ihre
Gedanken um die Arbeitssituation der Anwaltskanzlei Schjøll, wo sie als
Büroangestellte beschäftigt war. Es gelang ihr nicht, die erwartete Rolle zu
spielen: Immer nett sein, immer das kleine bisschen mehr leisten, immer mit dem
Hintern wackeln, um das Bild aufrechtzuerhalten, dass die Kanzlei Schjøll der
Traum aller werdenden Juristen war. Nachdem sie sich selbst erst mal als
andersartig, schwierig und zickig eingeführt hatte, war sie zum Opfer von
Intrigen ihrer Kollegen geworden. Am Tag zuvor hatte sie mit angehört, wie
zwei Frauen schlecht von ihr sprachen – als sie dachten, sie wären unter
sich. Das Schlimmste aber war nicht, dass über sie geredet wurde. Das
Schlimmste war, dass die beiden recht hatten. Liv wusste, dass sie ihre Arbeit
nicht gut machte. Es gelang ihr nicht, sich zu konzentrieren, sie fühlte sich
unbeholfen und unwohl in der Rolle als kleines Hühnchen zwischen lauter
Hähnen. Und sie wusste, dass sie Fehler machte. Aber sie schaffte es nicht,
die Situation zu ändern. Auch mit Vebjørn darüber zu sprechen, brachte sie
nicht fertig. Sich auf diese Weise vor ihm zu entblößen, schien ihr
unmöglich. Die Niederlage, einem derart anspruchslosen Job, der in jeder
Hinsicht als einfach galt, nicht gewachsen zu sein, wog zu schwer. Die
Erniedrigung, sich das einzugestehen, war zu groß, um sie anzusprechen.
Außerdem wollte sie ihn gar nicht an ihren Gedanken teilhaben lassen. Sie
hatte die ersten Symptome einer Krankheit entwickelt, die sie zunehmend
quälte. Für sie war das Gerede Teil einer umfassenden Verschwörung. Auch ihr
Mann war nicht frei von Verdacht. Sie vertraute Vebjørn nicht. Sie hielt es
bei ihm aus, aber sie vertraute ihm nicht.
Während sie sich noch über ihre ausweglose Situation im
Büro grämte, spürte sie, wie ihr Zorn auf Vebjørn wuchs. Es machte sie
wütend, dass sie sich dazu verdammt fühlte, still und unbeweglich dasitzen zu
müssen, den Blick auf die Papiere gerichtet, in Einsamkeit verbannt. Dieser
Zorn war durchsetzt von Selbstverachtung. Sie war böse, weil sie nicht
glücklich war, weil sie nicht stark genug gewesen war, ihn schon vor langer
Zeit zu verlassen, böse, weil sie ihn auch jetzt nicht verließ, jetzt in
diesem Augenblick, böse, dass sie jahrelang ausgehalten hatte, ihn wie ein
Kind versorgt hatte, wenn seine Fassade wieder bröckelte und er betrunken
seine Seele entblößte. Sie war wütend auf Vebjørn. Wie egoistisch er seine
Saufgelage abhielt und sie zwang, die soziale Verantwortung zu übernehmen und
der eigenen Familie, den Nachbarn und dem Rest der Welt Theater vorzuspielen.
Niemandem Einblick zu gewähren, die Kinder zum Lügen anzustiften und ihnen
nicht zu gestatten, andere Kinder mit nach Hause zu bringen, aus Angst vor den
Gerüchten, die aufkommen würden, wenn jemand Vebjørn in seiner schlimmsten
Verfassung zu Gesicht bekäme. Liv begriff, dass sie kaum noch Gefühle für
ihren Mann hegte und sich obendrein selbst aus tiefstem Herzen verachtete –
nach zwanzig Jahren des Zusammenlebens. In Wahrheit
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