Schwarzlicht (German Edition)
Großvater zu tun?»
«Einen Moment.» Vincent ging ins Arbeitszimmer, wo auch sein Computer stand. Das Kabuff, wie er es nannte – es diente zugleich als Gästezimmer und Rumpelkammer. Nina hatte hier gebügelt, die Wäsche trocknete in diesem Raum.
In einem Schränkchen lagerten Kontoauszüge, Steuerbescheide und Versicherungsunterlagen. Daneben seine Bücher über die Rote Armee Fraktion sowie der uralte Schuhkarton, den Vincent beim Ausmisten im Haus seiner Großeltern entdeckt hatte. Er trug ihn ins Wohnzimmer.
«Was hast du da?», fragte Saskia.
«Während des Zweiten Weltkriegs tat rund die Hälfte der Polizisten aus deutschen Großstädten Dienst in den besetzten Gebieten. Mein Opa war zuerst in Holland. Im Juli 1942 kam er nach Polen zum 25. Polizeiregiment, das in Lublin stationiert war. Das hier sind die Briefe, die er von dort an meine Oma geschrieben hat.»
72
«Meine liebe Ingeborg», las Vincent vor. «Habe vielen Dank für deine lieben Briefe vom 10., 12. und 14., die ich gestern erhielt, denn die Post hatte mal wieder Verzögerung, es herrscht hier noch das alte polnische Tempo. Heute ist Sonntag und ein ganzer Tag Ruhe, mittags habe ich mir das deutsche Volkskonzert angehört. Freitagabend hatten wir allerdings Alarm. Banditen waren in ein Dorf gekommen, um zu schlafen. Da ging es dann in rascher Fahrt mit dem Kraftwagen hin. Angekommen, wurde die Scheune umstellt und beim Schein von Leuchtraketen versucht, sie aufzubrechen, aber sie war von innen verriegelt. Kurz entschlossen …», Vincent unterbrach. «Willst du das wirklich hören?»
Saskia nickte.
«Kurz entschlossen wurde sie in Brand gesteckt, bald darauf wurde ein paar Mal innen an der Tür gerüttelt, und ich schoss ein Magazin aus dem Maschinengewehr darauf. Das Feuer erleuchtete taghell die Nacht, und bis zum Zusammensturz erfolgte von drinnen kein Laut mehr. Dann wurde das Wohnhaus vorgenommen. Der Bauer kam nach Aufforderung mit seiner Familie heraus. Ein paar Handgranaten wurden in die Stubenfenster geworfen und dann das Haus in Brand gesteckt. Die Familie des Bauern war taubstumm, und man konnte aus ihnen nichts herausbekommen, sie wurden noch in derselben Nacht erschossen. Gegen Mitternacht waren wir wieder zu Hause.»
«Das ist doch … ein Kriegsverbrechen!»
«Sein Job. In der ‹Aktion Reinhardt› wurden allein von Sommer 1942 bis Herbst 1943 zwei Millionen Juden aus Südostpolen ermordet. Die Polizei hat die Transporte in die Vernichtungslager begleitet. Wenn in den Briefen von Banditen die Rede ist, dann sind meistens geflohene Juden gemeint. Und Helfershelfer nennt er die Polen, die ihre jüdischen Landsleute verstecken.» Vincent zog einen zweiten Brief aus dem Karton. «Mehr?»
Saskia schluckte.
«Gestern fuhr ich mit drei Kameraden los, um in der Umgebung drei Juden zu holen. Wir haben sie dann bei Mondschein auf dem Friedhof erledigt. Ich habe der toten Jüdin die Stiefel ausgezogen, Größe sechsunddreißig. Es sind gute, langschäftige Stiefel, vielleicht kannst du sie tragen, liebe Ingeborg, wenn neue Hacken darunter kommen.»
Er atmete tief durch. Saskias Blick ruhte auf dem Teppich zu ihren Füßen. Sie hatte die Arme um ihren Leib geschlungen.
«Einmal hatte sich mein Großvater eine Magen-Darm-Geschichte zugezogen und lag eine Woche flach. Danach, so schreibt er, konnte er es kaum erwarten, Zitat: einen Juden vor die Flinte zu bekommen. Und ein anderes Mal erwähnt er ganz beiläufig eine Vergewaltigung.»
«In einem Brief an seine Frau?»
«Für ihn war das nach drei Jahren Krieg der ganz normale Alltag. Ich wundere mich, dass meine Großeltern die Briefe aufgehoben haben. Zumindest damals hat ihnen jedes Unrechtsbewusstsein gefehlt, da bin ich mir sicher.»
«Und später?»
«Die Nazizeit war nie ein Thema. Opa war ‹im Feld› gewesen, hieß es nur. Als ich die Briefe fand, waren beide längst tot.»
Saskia schwieg. Vincent faltete das Blatt und steckte es zurück in den Umschlag.
Es gab vierundzwanzig solcher Briefe an die Braut. Sie waren zum Teil voller Banalitäten. Wie Opa im Sommer tagelang in der Sonne faulenzte. Wie er sich über gutes Essen und Bohnenkaffee freute.
Die Armut der Einheimischen fand er eklig. Dass die Besatzer schuld an dem Elend waren, kam ihm offenbar nicht in den Sinn. Jede Form von Unterwürfigkeit vergrößerte seinen Stolz.
Und immer kehrten Gerhard Veihs Erzählungen zum Hauptthema zurück, das auch seinen Dienst im Polizeiregiment bestimmte: die
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