Schwedenbitter: Ein Hamburg-Krimi (Droemer) (German Edition)
mir ist es genau umgekehrt.
*
Ich kaufe mir am Kiosk noch eine Schachtel Zigaretten, und als ich wieder rauskomme und wie immer kurz an unserem Haus hochkucke, sehe ich Klatsche am beleuchteten Fenster stehen. Er raucht und kuckt zu mir runter. Ich stelle mich in den Lichtkegel, der aus dem Kiosk fällt, damit er mich sehen kann, und er winkt mich hoch. Ich gehe über die Straße, komme an unserer Haustür an, er drückt den Türöffner, ich muss nicht mal meinen Schlüssel rausholen. Ich gehe die Treppen hoch, er hat das Licht im Treppenhaus schon für mich angemacht, seine Tür steht offen. Ich beachte meine eigene Tür nicht, aus Klatsches Wohnung kommt warme Luft gekrochen. Und ein dunkles Licht. Kaminlicht. Das muss man erst mal hinkriegen: Kaminlicht ohne Kamin.
»Hey«, sagt er, als ich die Tür hinter mir zumache.
Ich sage nichts, ich habe das Gefühl, ich könnte anfangen zu heulen, wenn ich jetzt was sage.
Er nimmt mich in den Arm, er nimmt mir den Mantel ab, er zieht mich aus, und ich wehre mich nicht, denn ich weiß, er beschützt mich.
BISSCHEN SCHIEF
J etzt sieht das hier aber aus, als hätte der Kollege Kessler eine Putzkolonne durchgeschickt«, sagt der Calabretta.
Exakt. In der Tucker-Wohnung steht kein Staubkörnchen mehr auf dem anderen.
»Blitzt wie bei meiner Mutter«, sagt der Inceman.
Wie es bei meiner Mutter aussieht, weiß ich nicht. Wahrscheinlich eher duster.
Die KTU hat heute Morgen aber offensichtlich nichts gefunden, was uns auf den ersten Blick helfen könnte. Sonst hätte der Calabretta schon längst aufgeregte Anrufe gehabt. Deshalb stapfen wir jetzt auch noch mal durch die Wohnung der Toten. Nach Informationen suchen, für die sich die Spurensicherung nicht interessiert. Der Calabretta nennt das: mit dem Herzen sehen.
Ich setze mich in die Küche und warte ab, was passiert. Ob mir noch was einfällt zu den Tuckers. Ich weiß, dass ich am ehesten einen Draht zu Lorraine kriegen könnte. Mister Tucker ist mir unheimlich. Also die Küche. Draußen vorm Fenster versucht sich eine magersüchtige Sonne durch den Nebel zu kämpfen, aber es ist jetzt schon klar, dass sie sich nicht wird durchsetzen können. Auf dem Küchentisch liegt eine gehäkelte Tischdecke, ich pule mal ein bisschen an der Spitzenkante rum.
Der Calabretta hat sich ins Wohnzimmer zurückgezogen, der Inceman inspiziert den Flur. Nach einer guten halben Stunde kommt erst der Inceman zu mir in die Küche, dann der Calabretta.
»Wollen wir los?«, fragt der Inceman.
»Ich hab alles gesehen«, sagt der Calabretta. »Chef?«
»Lassen Sie uns abhauen«, sage ich.
Wir verlassen die Wohnung, der Calabretta versiegelt die Tür. Wir rutschen vorsichtig durchs Treppenhaus, und wir kommen tatsächlich unten an, ohne dass einer gestürzt ist. Der Calabretta ist als Erster draußen, der Inceman hält mir die Tür auf und lässt mich vor. Dabei kuckt er mich wieder so an. Ich versuche, es zu ignorieren, es gelingt mir aber nicht ganz. Außerdem bemerkt er, dass ich versuche, es zu ignorieren, was natürlich ganz blöd ist. Er zieht seine perfekt gewachsenen schwarzen Augenbrauen ein bisschen nach oben und grinst. Lecko mio.
Als wir auf der Straße stehen, drehe ich mich noch mal um und schaue an den rostigen Balkonen hoch.
»Wir kommen nicht wieder«, sage ich leise, mehr zu dem alten Haus als zu den beiden Männern an meiner Seite.
»Was haben Sie gesagt?«, fragt der Calabretta.
»Wir sollten was essen gehen«, sage ich.
»Sehr gute Idee«, sagt der Inceman. »Mir hängt der Magen zwischen den Knien. Und ich würde mich mit Ihnen beiden gerne über die Immobilienfirma unterhalten.«
»Oberhafenkantine?«, fragt der Calabretta, und ich sage: »Bingo.«
Nur weg aus Wilhelmsburg. Wann immer ich hier bin, merke ich nach wenigen Minuten, dass ich hier gar nicht sein will. Das liegt nicht nur daran, dass das Tucker-Haus so ein trauriger Ort ist. Hamburg Süd macht mich fertig. Ich fühle mich, als wäre ich im Nirgendwo gelandet. Wilhelmsburg ist gleichzeitig alles: Großstadt und Provinz und Stadtrand und Dorf und Industrie und Kleinstadt und Hafen und Auffangbecken. Und gleichzeitig nichts, denn es gibt keinen inneren Zusammenhang. Keine spürbare Geschichte. Eine Elbinsel, ein alter Stadtteil, aber nach dem Krieg und der großen Sturmflut ist der irgendwie durch die Maschen gefallen. Über Jahrzehnte zum Ghetto mutiert. Ein vergessener Stadtteil. Schade, es wäre doch alles da gewesen. Aber so sieht’s jetzt aus:
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