Schwedenbitter: Ein Hamburg-Krimi (Droemer) (German Edition)
viel zu viel Gewerbegebiet, viel zu viele dünn gebaute Hochhäuser. Kein Ort für Menschen. Eher ein Ort für Lastwagen.
»Fahren wir?«, fragt der Calabretta.
»Fahren wir«, sage ich.
Wir steigen ins Auto, der Calabretta fährt, ich sitze neben ihm, der Inceman sitzt hinten, was mir ein bisschen leidtut, weil er so groß ist und sich in dem schnittigen Calabretta-Alfa richtig einklappen muss. Aber er hat nichts gesagt, und dann muss er jetzt eben hinten sitzen. Ich sitz nicht so gerne hinten.
Wir fahren noch ein Stück die Straße lang, stumpfe Hallen links und rechts, geducktes Zeug, Blech. Der Calabretta biegt auf die Wilhelmsburger Reichstraße ein. Da kommt der schöne Teil. Wiesen, Kanäle, kleine Wälder, Grillplätze, Schrebergärten. Und natürlich überall HSV-Flaggen, das ist hier HSV-Land, da kann man überhaupt nichts machen, das sehen die auch richtig eng hier.
»Selten so eine einsame Wohnung gesehen«, sagt der Inceman von hinten.
»Ja, schlimm«, sagt der Calabretta. »Das sah da aus, als hätten die beiden gar nicht miteinander gelebt. Das waren einfach nur einzelne Zimmer.«
»Küche und Schlafzimmer gehörten ihr«, sage ich, »der Rest ihrem Ehemann.«
»Und der Flur war die entmilitarisierte Zone«, sagt der Inceman. »Da durften beide durchlaufen, aber nur alleine. Zusammen haben die nichts mehr gemacht. Eigentlich fast pervers, dass sie zusammen umgebracht wurden. Ich glaube, das hätte denen nicht gepasst.«
In dieser Wohnung muss es gewesen sein wie in den zwei verfeindeten Hälften eines geteilten Landes. Und während der Teilung sind schlimme Dinge vorgefallen, Kriegsverbrechen, die man nicht verzeihen und nicht vergessen kann.
»Hier rechts grillen meine Eltern im Sommer immer mit ihren Freunden«, sagt der Inceman und zeigt auf ein paar Lichtungen, die sich direkt neben der Schnellstraße aneinanderreihen.
»Danke für die Info«, sagt der Calabretta. »Ich hab mich immer gefragt, wer da eigentlich sein Steak in den Auspuffgasen röstet.«
Die beiden Männer lachen, ich schaue aus dem Fenster und kann nicht aufhören, darüber nachzudenken, was in der Ehe der Tuckers passiert sein mag.
»Wenn wir wissen, warum es bei Walt und Lorraine so kalt war, wissen wir auch, warum sie sterben mussten«, sage ich.
»Könnte sein, dass Sie da richtigliegen«, sagt der Calabretta. »Ich hab auch das Gefühl, dass es einen Zusammenhang geben muss zwischen der desaströsen Entwicklung, die diese Ehe genommen hat, und dem Desaster, das am Ende im Wohnzimmer geschah.«
Der Inceman räuspert sich, aber das wäre auch als Knurren durchgegangen. Dann hustet er ein bisschen. Da hab ich jetzt aber echt nichts mit zu tun.
Wir schauen alle noch ein bisschen aus dem Fenster und denken nach.
Kurz bevor wir über die Süderelbe auf die Veddel und ins Hafengebiet kommen, steht linker Hand eine Kuh auf dem Deich.
*
Die Oberhafenkantine liegt mit Schlagseite an ihrer kleinen Kaimauer. Wie ein altes Schiff, das von einer Elbwelle angespült wurde. Ihr Dach klebt förmlich unter der Eisenbahnbrücke, als hätte sie sich bei deren Bau gerade noch rechtzeitig geduckt, um nicht mit in die Stahlkonstruktion geschraubt zu werden. Drinnen ist der Laden so schief wie draußen, und ich muss mich kurz daran gewöhnen, dass die senkrechte Achse hier ein bisschen in die Diagonale geschoben ist.
Wir setzen uns in eine der Ecken am Fenster, auf zwei gegenüberliegende Bänke, die mit braunem Leder bezogen sind. Es sind ein paar Geschäftsleute da und ein paar Agenturheinis, an der Theke stehen zwei Hafenarbeiter vor ihrem Bier, vielleicht sind’s sogar Seeleute. In der Ecke gleich neben der Tür sitzt eine junge Frau und spielt auf einem Schifferklavier.
Wir bestellen einmal Matjes, einmal Roastbeef, einmal Labskaus. Dazu Bratkartoffeln und drei Bier. Der Calabretta sitzt mir gegenüber, der Inceman hat sich neben mir auf die Bank gesetzt. Ich lehne mich mit dem Rücken ans Fenster, dann sitzen wir nicht ganz so nahe beieinander. So. Aber der soll mich bloß nicht schon wieder ankucken. Sonst kuck ich nämlich mal. Wird er dann schon sehen, was er davon hat.
Er legt seinen dunkelgrauen Mantel ab und schiebt die Ärmel seines blauen Pullovers hoch. Seine Unterarme sind olivfarben, ein paar gemeißelte Sehnen ziehen sich vom Handgelenk bis zum Ellbogen. Als er bemerkt, dass ich das gesehen habe, gehen seine Mundwinkel ein Stück nach oben. Er streicht sich die Haare nach hinten und kuckt mich an, als wolle er
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