Schweigend steht der Wald: Roman (German Edition)
irrten, von zivilen Milizen wieder eingefangen. Die SS machte kurzen Prozess mit ihnen. Und es gab sogar Fälle, wo die Dorfmilizen die entlaufenen Häftlinge gleich eigenhändig liquidierten.«
Anja blinzelte nur. Skrowka erhob sich und sah auf die Uhr. Dann fixierte er sie: »Vor ein paar Tagen bekam ich einen Anruf. Von einer Frau Altmeier. Sie war vorhin am Telefon, als Sie ins Büro gekommen sind. In ihrem Garten liegt ein Toter. Ein erschlagener Häftling. Er liegt dort schon seit über fünfzig Jahren. Sie hat ihn damals sterben sehen, hat alles aus nächster Nähe beobachtet. Und jetzt hat sie mich angerufen und gebeten zu kommen. Merkwürdig, nicht wahr, wie lange so etwas dauert? Doch es kommt neuerdings immer häufiger vor. Vielleicht will ein Teil dieser Generation doch noch beichten, bevor sie abtritt. Es ist schwer zu sagen.«
»Hat sie erzählt, was sie gesehen hat?«
»Ja. Sie war damals zweiunddreißig Jahre alt. Eine Kolonne von Häftlingen wurde an ihrem Haus vorbeigetrieben. Es war die letzte Phase der bestialischen Operation: die Todesmärsche. Die Vernichtung wurde ja buchstäblich bis zur letzten Sekunde fortgesetzt. Als die alliierten Truppen immer näher kamen, mussten die Lager geräumt werden. Aber man ließ die Gefangenen nicht etwa zurück, sondern man trieb sie nach Süden, Richtung Dachau, wo sie angeblich gesammelt werden sollten, weiß der Himmel, wozu.
Da die US-Einheiten schneller als erwartet vorankamen und auch ständig Jägergeschwader auftauchten, die auf alles feuerten, was sich am Boden bewegte, irrten die Kolonnen irgendwann nur noch ziellos umher. Tagelang. Wochenlang. Jeder wusste, dass es zu Ende war. Aber selbst nachdem Himmler den Befehl erlassen hatte, keine Juden mehr zu töten, weil er sich davon bessere Verhandlungsbedingungen mit den Alliierten erhoffte, hörte das Morden nicht auf. Es gibt sogar die Theorie, die besagt, dass die Soldaten die Gefangenen schon allein deshalb langsam zu Tode hetzten, weil sie befürchteten, andernfalls an die Front geschickt zu werden. Solange sie Gefangene vor sich hertrieben, waren sie selbst relativ sicher.
Die Maschine lief und lief. Bis zur letzten Minute krepierten auf den Straßen und Waldwegen in dieser Gegend wehrlose Menschen, zu Tode gehetzt, erschlagen oder erschossen auf bayerischen Landstraßen. Die Amerikaner fanden später entlang den Hauptmarschrouten fünftausend eilig verscharrte Leichen. Wie viele Opfer es insgesamt waren, weiß kein Mensch.«
Die Glocke der Dorfkirche begann zu läuten. Schwalben schossen am Himmel hin und her. Anjas Handy vibrierte kurz und gab dann ein kurzes Piepsen von sich. Aber sie schaute nicht nach, wer ihr eine Botschaft geschickt hatte, denn Skrowka sprach weiter.
»Bevor so ein Zug ein Dorf passierte, gab die SS den Bewohnern Befehl, in den Häusern zu bleiben. Aber natürlich beobachteten alle durch die Ritzen der Fensterläden, was dort draußen geschah. Eine Gruppe von Häftlingen rastete in unmittelbarer Nähe von Frau Altmeiers Hof. Als es weitergehen sollte, war einer der Häftlinge nicht in der Lage, aufzustehen. Ein SS-Mann schleifte ihn ein Stück von der Straße weg, zertrümmerte ihm mit dem Gewehrkolben den Schädel und ließ ihn liegen. Frau Altmeier hat das mit angesehen. Ihr Mann war im Feld, und neben den drei kleinen Kindern war nur ihr Vater im Haus. Als der Zug außer Sichtweite war, nahm ihr Vater eine Schaufel und begrub den Toten am Waldrand. Später holte er einen alten Grenzstein aus dem Stall und markierte die Stelle. Seither pflegt die Familie das Grab. Frau Altmeiers Vater ist schon lange tot. Ihr Mann ist nicht aus dem Krieg zurückgekehrt. Er hat kein Grab. Aber im Garten liegt der erschlagene Häftling. Seit über fünfzig Jahren schneidet Frau Altmeier das Gras um den Grenzstein herum ab und kümmert sich darum, dass er nicht überwuchert. Aber erzählt hat sie es nie. Niemandem. Bis letzte Woche.«
»Und warum jetzt?«
»Das habe ich sie auch gefragt. Wissen Sie, was sie gesagt hat? Es habe doch niemand danach gefragt. Sie hat irgendwie von unseren Recherchen erfahren. Deshalb hat sie mich angerufen.«
»Und was erwartet sie von Ihnen?«
»Sie möchte, dass wir die Angehörigen des Toten ausfindig machen, damit die ihn holen.«
Anja verzog ungläubig das Gesicht. »Ist das ihr Ernst?«
»Ja. Ich glaube schon. Ich werde Frau Altmeier natürlich erklären, dass es so gut wie unmöglich ist, den Toten jetzt noch zu identifizieren. Dann werde ich
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