Schweigend steht der Wald: Roman (German Edition)
Sobibor. Dabei war Flossenbürg eine der ersten KZ-Gedenkstätten überhaupt. Schon 1947 wurde am Krematorium eine sogenannte symbolische Erinnerungslandschaft eingeweiht. Aber man wollte eine friedliche, gewaltlose Stätte, die die Erinnerung an das Gewesene mildert. Daher riss man das meiste ab und baute auf den Fundamenten der Häftlingsbaracken eine neue Wohnsiedlung. Davor wurde ein Ehrenfriedhof für die ›Opfer‹ von Gewaltherrschaft angelegt, womit die Verallgemeinerung den gewünschten Vertuschungsgrad erreichte. Die Hänsel-und-Gretel-Methode eben.«
»Hänsel und Gretel?«
»Na ja. Das Märchenwaldprinzip. Verzerrung bis zur Unkenntlichkeit. Man erzählt die Geschichte zwar, aber in entstellter Form, so dass sie nicht weh tut. Hänsel und Gretel eben anstatt Hans und Grete.«
Anja runzelte verständnislos die Stirn.
»Nun ja, man kann das Märchen ja so oder so lesen«, erklärte Skrowka. »Naiv oder ein wenig misstrauisch. Da sind zwei Kinder aus zerrütteten Verhältnissen, wir würden heute sagen: aus einem ziemlich asozialen Milieu. Mit viel Glück entgehen sie der Ermordung durch ihre Eltern. Sicher ein Erlebnis, das die beiden traumatisiert haben dürfte, und ein Indikator dafür, dass wir es wohl mit ziemlich problematischen Halbwüchsigen zu tun haben. Nun haben die beiden aber unverschämtes Glück: Eine wohlhabende Frau, die am Rand der Gesellschaft lebt, nimmt die beiden Slumkids auf. Sie sieht ihnen sogar nach, dass sie in ihr Haus eingebrochen sind und sie bestehlen wollten, denn wahrscheinlich erkennt sie, dass die Kinder im Grunde nichts für ihren jämmerlichen Zustand können.
Wer ist diese Frau, die da allein im Wald lebt, isoliert vom Rest der Gesellschaft? Das Märchen hat viele Schleier über sie gezogen. Aber ihr Verhalten ist interessant. Offenbar glaubt sie, dass man aus kriminellen Jugendlichen durch Ausbildung und Beschäftigung zivilisierte Menschen machen kann. Sie setzt auch nicht auf moralische Appelle, sondern auf Bildung und Arbeit. Dabei ist sie allerdings nicht so naiv zu glauben, dass die Sache ein Zuckerschlecken wird. Sie weiß, dass die Kinder zwar Opfer, aber durch ihre katastrophale Sozialisierung auch gefährlich sind. Der Junge entpuppt sich dann auch recht schnell als hoffnungsloser Fall mit Gewaltneigung, weshalb die Frau das einzig Richtige tut: nämlich ihn von seiner Schwester zu separieren. Sie versucht zunächst, das Mädchen zu zivilisieren. Doch Grete ist nicht viel besser als ihr Bruder. Wozu arbeiten? Warum sich abrackern? Wozu etwas lernen? Die alte Frau ist doch reich. Wir kennen ja nur die Version der Kinder, deren fixe Idee, die Frau habe sie auffressen wollen. Woher kommt diese Wahnvorstellung? Hat Hans sie seiner Schwester eingeflüstert? Oder hatten die Kinder durch das Milieu, aus dem sie stammten, ein Klassenvorurteil verinnerlicht, dass die Reichen einen ohnehin immer nur ausbeuten und am Ende vernichten?
Wie dem auch sei: Grete ermordet die alte Frau und befreit ihren Bruder. Gemeinsam plündern sie anschließend ihr Haus. Dass ihre hanebüchene Geschichte, die Frau sei eine Hexe gewesen, die sie habe kochen und essen wollen, nicht einmal hinterfragt oder überprüft wird, ist nicht verwunderlich. Ressentiments gegen Außenseiter und Randgruppen, zumal wenn sie auch noch erfolgreich sind, haben immer Konjunktur. Der Beutezug der Kinder ist willkommen, und sie werden wieder in ihre Familie aufgenommen. Die Enteignung und Vernichtung des erfolgreichen Außenseiters, von dem man eigentlich hätte lernen können, den man jedoch lieber totschlägt und ausraubt, anstatt ihm nachzueifern, stabilisiert die zuvor angespannten Familienverhältnisse wieder. Happyend unserer präfaschistischen Pogromstory. Immerhin unser beliebtestes Märchen.«
Er schaute auf die Namenslisten auf ihrem Tisch. »Und? Haben Sie jemanden gefunden, den Sie kennen?«
»Sind es denn alle Namen?«
»Nein. Nur die, von denen wir wissen, dass sie hier irgendwann einmal gearbeitet haben, also vom Lagerkommandant bis zum einfachen Wachsoldaten und den Aufseherinnen. Männer und Frauen.«
»Frauen? Hier haben auch Frauen gearbeitet?«
»Sicher. Nicht wenige.« Er sah sie resigniert an. »Das einzig Gute an der Beschäftigung mit dieser Zeit ist, dass man wirklich sämtliche Illusionen verliert. Manche Frauen haben schlimmer gewütet als ihre Männer. Johanna Ruschka zum Beispiel. Sie war Sudetendeutsche. In den dreißiger Jahren ist sie in Würzburg auf eine
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