Schweigend steht der Wald: Roman (German Edition)
ihn, bis die Anzeigen auf dem Armaturenbrett aufleuchteten, und öffnete sein Fenster einen Spalt weit. Dann zog er den Schlüssel wieder ab.
»Rupert, wenn du jetzt nicht augenblicklich …«
»NEIN!«, schrie er sie an. »Ich fahre keinen Meter, wenn du mir nicht sagst, was ihr uns verschweigt.«
Waldtraud Gollas duckte sich erschrocken zur Seite weg. Ruperts rechte Hand war in die Höhe gefahren und mit einem klatschenden Geräusch auf das Armaturenbrett aufgeschlagen.
Sie starrte verstört vor sich hin. Ihre Lippen bebten.
45
S ie saß an einem Tisch in Skrowkas Büro und blätterte Aktenordner durch, die er in regelmäßigen Abständen mit einem knappen erläuternden Kommentar neben ihr hinlegte. Immer wieder musste sie sich von Berichten losreißen, an denen sie sich augenblicklich festlas, auch wenn sie mit ihrer Suche gar nichts direkt zu tun hatten. Und sobald sie auf Fotos stieß, die den Zustand des Lagers nach der Befreiung zeigten, blieb sie minutenlang davor sitzen. Derartiges hatte sie nie zuvor gesehen. Schlimmer noch als die Fotos waren die Zeugenaussagen, die hie und da in den teilweise noch ungeordneten Akten abgeheftet waren. Anja konnte gar nicht anders, als sie zu lesen.
Zu Baumgartner, Ludwig; Obersturmbannführer; Zeitraum: November 1944; Zeuge: Walleitner, Hugo:
»Baumgartner befahl dem Lagerarzt unter irgendeinem Vorwand an einer von ihm ausgesuchten ungefähr 25-jährigen Frau, welche Jüdin war und bei einer Visite über Unterleibsschmerzen klagte, zu operieren und ihn zusehen zu lassen.
Die betreffende Frau war trotz der ewigen Tretmühle des Sklavenlebens und des langsamen seelischen und körperlichen Zerfalles noch eine Schönheit. Sie wurde unter furchtbaren Qualen und Schmerzen im Beisein des Adjutanten von dem vertierten und selten nüchternen Arzt ohne wirksame Narkose operiert und starb eine Stunde nachher an den Folgen dieser Prozedur.
Diesem weiblichen Häftling wurde im Auftrag des Adjutanten der Uterus herausoperiert.«
Sie hob den Kopf und versuchte, das Würgen zu unterdrücken. Baumgartner. Schlei. Fritzsch. Kirsammer. Ihr graute es davor, hier einen Namen zu finden, den sie kannte. An einer Wand hingen Fotos von einigen »Prominenten« des Lagerpersonals. Ein gewisser Max Koegel war dort zu sehen. Auf einem Zettel, der darunter an die Wand gepinnt war, stand zu lesen: »Befahl nach Lagerauflösung Flossenbürg im April 1945 Todesmarsch gehfähiger Häftlinge in das KZ Dachau. Wies während des Marsches die Bürgermeister der jeweiligen Gemeinden an, Häftlinge, die am Straßenrand erschossen wurden oder an Hunger und Erschöpfung gestorben waren, zu begraben. Koegel tauchte nach Kriegsende mit den Ausweispapieren eines vormaligen KZ-Häftlings bei einem Landwirt unter, wurde aber im Juni 1946 durch Angehörige der US-Armee in Bayern verhaftet. Während der Haft im Gefängnis Schwabach beging er am 26. Juni 1946 Selbstmord durch Erhängen. Koegel war in seiner Funktion als Lagerkommandant für die Ermordung Hunderttausender Menschen verantwortlich.«
Das Foto von Hermann Kirsammer hing daneben. Ohne die SS-Uniform hätte man ihn für einen Schuljungen halten können. »War von Oktober 1943 bis April 1945 als Leiter der Verwaltung für Unterkunft und Verpflegung zuständig. Mitverantwortlich für Hunger- und Kältetod vieler Tausender Gefangener. Verurteilt zu lebenslänglicher Haftstrafe am 28. November 1947 (Dachau). 1952 wegen guter Führung entlassen. Verbleib unbekannt.«
An der gleichen Wand hing ein Zeitungsausschnitt, der sich mit Baumgartner befasste: »Die Staatsanwaltschaft in Weiden fahndet seit rund drei Jahrzehnten nach SS-Obersturmführer Ludwig Baumgartner, der einst Adjutant des letzten Kommandanten im Konzentrationslager Flossenbürg war. Der einstige SS-Mann wird verdächtigt, mindestens sechs Menschen eigenhändig ermordet zu haben. In 1680 Fällen hat er sich nach Überzeugung der Ermittler der Beihilfe zum Mord schuldig gemacht – die Häftlinge waren bei dem menschenunwürdigen Abtransport nach der Schließung des Konzentrationslagers am 20. April 1945 ums Leben gekommen. Ob Baumgartner noch lebt, ist ungewiss.«
»Wenn Sie das alles lesen wollen, reicht ein Leben nicht«, vernahm sie Skrowkas Stimme neben sich.
Anja sah auf. »Wissen Sie, was ich mich vor allem frage? Warum habe ich von diesem Ort hier noch nie gehört?«
»Das ist leicht zu beantworten. Flossenbürg gehört zu den vergessenen Lagern, genauso wie Trostenez und
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