Schweigend steht der Wald: Roman (German Edition)
wichtigsten Zeugen, die nicht sofort hatten vernommen werden können, in einem kleinen Ausflugslokal untergebracht.
Das Lokal musste neu sein. Anja kannte es jedenfalls nicht, und eigentlich war es ein Wunder, dass es außerhalb der Feriensaison und an einem Wochentag überhaupt geöffnet hatte. Der Wirt machte heute wahrscheinlich sein Geschäft des Jahres.
»Ich werde Sie nicht lange hierbehalten«, sagte Gerlach jetzt zu ihr, nachdem er ihre Personalien überflogen hatte. »Aber ein paar Dinge muss ich leider sofort von Ihnen erfragen.«
»Bitte«, erwiderte Anja, »fragen Sie.«
Sie schob den leeren Suppenteller zur Seite, den der überforderte Kellner schon vor einer Dreiviertelstunde hatte abräumen sollen. Die bestellte und zweimal versprochene zweite Apfelsaftschorle war nie gekommen, und so trank sie jetzt den lauwarmen Rest der ersten.
Durch die Verandafenster konnte sie in den Schankraum des Gasthofs hineinsehen. Der halbe Landkreis schien dort versammelt, oder zumindest die männliche Einwohnerschaft. Nur wenige unterhielten sich noch. Die meisten hockten stumm vor ihren Bierkrügen und blickten manchmal zu ihr hin oder starrten mürrisch in den Raum. Obermüller saß allein in einer Ecke. Manch ein Blick wanderte zu ihm hin, aber niemand schien Lust oder den Mut zu haben, das Wort an ihn zu richten. Er kauerte in seiner Ecke, trank Bier und starrte entweder aus dem Fenster in die Nacht hinaus oder blickte missmutig zu ihr hin. Wahrscheinlich fragte er sich genauso wie sie, wann er endlich hier verschwinden konnte.
»Sie wohnen in Waldmünchen? Dort können wir Sie erreichen?«
»Ja. Am besten im Forstamt. Ich habe ein Zimmer bei einer älteren Dame, Frau Anhuber.« Sie nannte ihm die Adresse. »Aber ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie dort nicht nach mir fragen würden.«
»Verstehe. Kein Problem. Wie lange arbeiten Sie schon hier?«
»In Waldmünchen oder in dieser Gemarkung?«
»Hier in Faunried.«
»Seit gestern.«
»Aber in Waldmünchen sind Sie schon länger?«
»Seit drei Wochen.«
»Und was genau tun Sie hier?«
»Wir kartieren.«
»Sie vermessen das Gelände?«
»Nein. Wir untersuchen die Böden. Das geschieht zurzeit in ganz Bayern. Es sind überall Kartierer unterwegs. Bisher war ich weiter im Süden eingesetzt, in der Gegend von Neukirchen beim Heiligen Blut. Aber dort hat es letzte Woche Windwurf gegeben. Da ist im Moment kein Durchkommen, deshalb wurden wir hier eingesetzt.«
Anja wurde klar, dass all dies den Beamten schwerlich interessieren konnte, und zuckte entschuldigend mit den Schultern.
»Die Waldbesitzer sind davon unterrichtet, nehme ich an?«, fragte er.
»Ja, sicher. Die werden alle angeschrieben und informiert. Es ist ja keine große Sache. Wir ziehen alle fünfzig Meter eine Bodenprobe, das ist alles.«
»Machen Sie das hauptberuflich?«
Anja schüttelte den Kopf. Musste sie diesem Mann ihre ganze Lebensgeschichte erzählen? War das von Belang?
»Ich bin noch Studentin«, erklärte sie. »Ich mache hier nur ein Praktikum.«
»Wo studieren Sie?«
»An der TU München.«
Er schrieb sich etwas auf, bevor er die nächste Frage stellte. »Sie sind Xaver Leybach schon gestern begegnet, nicht wahr?«
»Ja.«
»Wann?«
»Im Lauf des Vormittags. So gegen elf oder zwölf vielleicht. Da habe ich ihn jedenfalls das erste Mal bemerkt. Er hat mich beobachtet, bevor er uns im Haingries dann plötzlich in den Weg getreten ist.«
»Was hat er zu Ihnen gesagt?«
»Er hat uns beschimpft und wollte, dass wir verschwinden.«
»Ihr Kollege sagt, er sei aggressiv gewesen.«
»Ja. Er war sehr aufgebracht. Zornig.«
»Haben Sie irgendeine Vermutung, warum?«
Anja schaute ausdruckslos vor sich hin. »Nein«, antwortete sie nach einer Pause. »Alle Waldbesitzer sind seit Monaten über die Kartierungsarbeiten informiert. Die Bodenuntersuchungen sind wie gesagt in ganz Bayern im Gang. Vielleicht hat er die Information aus irgendeinem Grund nicht bekommen und sich geärgert, dass fremde Leute in seinem Wald waren. Aber seine Reaktion war überzogen und absolut unangemessen.«
»Kam er Ihnen verwirrt vor?«
»Geistig verwirrt meinen Sie?«
»Ja. Ihr Kollege hat gesagt, Xaver Leybach habe auf ihn den Eindruck gemacht, er sei nicht ganz bei Sinnen gewesen, als Sie ihn trafen.«
Anja schaute zu Obermüller hinaus, der ihren Blick bemerkte und die Gelegenheit des Blickkontakts nutzte. Er tippte mit dem Zeigefinger auf seine Armbanduhr, mimte mit den Händen eine Lenkbewegung
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