Schweigend steht der Wald: Roman (German Edition)
Plastik ans Ohr. »Hallo?«
»Frau Grimm. Mein Name ist Dallmann. Kriminalhauptkommissar. Mein Kollege hat mir soeben einen ziemlich ungeheuerlichen Tatvorwurf übermittelt. Könnten Sie mir das bitte noch einmal bestätigen? Sie verdächtigen Xaver Leybach des Mordes an Ihrem Vater?«
Anja schluckte. So wie diese unangenehme fremde Stimme es zusammenfasste, klang es plötzlich ganz anders. Aber letztlich war es so, wie er sagte.
»Ja«, antwortete sie. »Diese Vermutung habe ich.«
»Wie hieß Ihr Vater, bitte?«
»Johannes Grimm.«
Der Mann antwortete nicht gleich. Da waren Stimmen im Hintergrund. Anscheinend war der Kommissar nicht in seinem Büro, sondern unterwegs. Vielleicht sogar zu Hause vor dem Fernseher?
»Und wann soll das geschehen sein?«
»Vor zwanzig Jahren«, antwortete sie. »Mein Vater verschwand am 21. August 1979.«
Erneut wurde es still am anderen Ende der Leitung. Sie hörte eine Kinderstimme.
»Frau Grimm, könnten Sie morgen bitte zur Polizeidirektion nach Weiden kommen? So gegen zwölf Uhr? Das wäre wirklich sehr hilfreich. Können Sie das einrichten?«
»Ich muss meinen Vorgesetzten fragen.«
»Wer ist Ihr Vorgesetzter?«
»Amtsleiter Grossreither vom Forstamt Waldmünchen.«
»Das ist kein Problem. Sagen Sie ihm, Konrad Dallmann habe Sie zu einer Vernehmung … nein, lassen Sie. Ich werde ihn anrufen. Geben Sie mir bitte noch einmal Kriminalhauptmeister Gerlach. Auf Wiedersehen.«
Gerlach nahm ihr das Telefon ab, lauschte, sagte nur manchmal »ja« oder »sicher« und schaltete die Verbindung schließlich ab.
»Wir machen jetzt hier erst einmal Schluss, Frau Grimm. Bitte sprechen Sie vorerst mit niemandem über diese Sache.«
»Ja. Natürlich.«
»Hier ist die Adresse der Polizeidirektion. Und jetzt erholen Sie sich erst einmal von diesem Schreck. Bis morgen.«
»Gute Nacht, Herr Gerlach«
12
A ls sie erwachte, hatte sie das Gefühl, an zwei Eisenhaken zu hängen, die ihr jemand in die Schläfen gebohrt hatte. Sie schleppte sich zum Waschbecken und hielt den Kopf unter das Wasser. Dann sah sie auf die Uhr und stellte mit Schrecken fest, dass es schon halb zehn war. Sie erwog, bei Grossreither anzurufen, um sicherzugehen, dass er von der Polizei informiert worden war, unterließ es aber nach einem Blick aus dem Fenster. Strömender Regen ergoss sich vom Himmel. Es war ohnehin kein Kartierwetter.
Sie setzte sich aufs Bett, umfasste ihren dröhnenden Kopf und griff nach einer Tablettenschachtel auf dem Nachttisch. Von derartigen Nebenwirkungen hatte nichts auf dem Beipackzettel des Schlafmittels gestanden, dachte sie mit schmerverzerrter Miene und warf die ohnehin fast leere Packung in den Papierkorb.
Ein Frühstück bekäme sie bei Frau Anhuber jetzt auf keinen Fall mehr. Blieb nur das Café am Marktplatz. Sie zog sich an, hüllte sich in Ermangelung eines Regenschirms in ein Cape und ging die Treppe hinunter. Auf halber Strecke hörte sie, wie die Glastür zu Frau Anhubers Wohnung sich öffnete, und als sie den Fuß der Treppe erreichte, stand ihre Vermieterin bereits neben der Eingangstür.
»Frau Grimm, Frau Grimm«, rief sie aufgeregt. »Sie stehen in der Zeitung. Um Himmels willen, so ein Unglück. Wie ist das denn nur passiert?«
Sie streckte ihr eine gefaltete Zeitung entgegen. Anja schaute befremdet auf ein Foto, auf dem sie mit Obermüller und ein paar Einheimischen auf dem Parkplatz vor der Biogasanlage von Faunried abgebildet war. Wann war denn das aufgenommen worden? Offenbar während des Durcheinanders nach dem Eintreffen der Kriminalpolizei. Immerhin standen keine Namen darunter, sondern lediglich eine vage Bildunterschrift: Forstbeamte fanden den Toten im Wald. Forstbeamte? So schnell wurde man befördert.
»Was schreibt denn die Zeitung?«, fragte sie.
»Eine Familientragödie!«, rief Frau Anhuber aufgeregt. »Entsetzlich. So etwas hat es hier noch nie gegeben. Aber erzählen Sie doch. Was haben Sie …«
»Ich muss leider los, denn ich bin viel zu spät dran. Kann ich die Zeitung mitnehmen?« Und bevor Frau Anhuber sie mit weiteren Fragen löchern konnte, war sie bei der Eingangstür und im nächsten Moment draußen auf der Straße.
Sie sah sich unwillkürlich um, ob ihr jemand von der Lokalpresse aufgelauert hatte, aber falls überhaupt ein Reporter ihre Adresse ausfindig gemacht hatte, so hatte der Regen ihn offenbar vertrieben. Sie steckte die Zeitung unter ihr Cape und lief, so schnell sie konnte, durch den strömenden Regen bis zum
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