Schweigend steht der Wald: Roman (German Edition)
unterließ es aber. Seine Gedanken waren auch so leicht zu erraten. War es keine Belastung für sie, diesen Ort wieder aufzusuchen? Warum ausgerechnet hier? Warum nicht sonst irgendwo? Oder dachte er das vielleicht gar nicht? Waren das nur ihre eigenen Gedanken?
Die Bedienung war an ihren Tisch getreten und fragte ihn, was er trinken wolle. Er bestellte einen Cappuccino und musterte sie dann wieder mit einem derart freudigen Lächeln, dass sie einfach nicht anders konnte, als ebenfalls zu lächeln.
»Wahnsinn, einfach Wahnsinn«, stieß er hervor. »Wo lebst du denn?«
»Immer noch in München.«
»Und deine Mutter? Wie geht es deiner Mutter? Mensch, Anja, du bist ja sogar noch schöner geworden als sie. Eine tolle Frau war das. Ich weiß noch, wie sie mir einmal Bienengift aus dem Fuß gesaugt hat …«
Er hielt inne. Musste sich ihre Stimmung denn immer gleich auf ihrem Gesicht spiegeln? An seiner Reaktion erkannte sie sofort, dass ihr Blick erzählte, wie sehr der Gedanke an ihre Mutter sie bekümmerte.
»Sie ist ganz okay«, log sie. »Es macht ihr ein wenig zu schaffen, dass ich nicht mehr zu Hause wohne, aber sie kommt klar. Aber erzähl mir von dir.« Sie musterte ihn, seinen Anzug und die elegante Krawatte. »Schick siehst du aus. Steht dir gut, dieser Anzug. Aber Landwirtschaft betreibst du in diesem Aufzug ja wohl nicht. Oder?«
Er lachte. »Nein. Darauf kannst du wetten.« Seine Augen blitzten. »Ich hasse Ställe und Äcker. Schon immer. Ich habe immer gewusst, dass ich mal etwas anderes machen werde. Und Gott sei Dank haben sie mich machen lassen. Ohne den Fremdenverkehr wären wir längst am Ende. Das ist die einzige Chance, die uns noch bleibt. Aber das muss man natürlich richtig anpacken. Heute darf man sich keine Fehler mehr erlauben. Sonst ist ziemlich schnell Schluss.« Er unterbrach sich. »Aber … was rede ich denn nur.«
»Nein, nein« warf sie beschwichtigend ein. »Erzähl nur. Ist doch interessant.«
Er schüttelte den Kopf, blickte betreten vor sich auf den Tisch. »Mein Onkel und meine Großmutter sind tot, und ich rede von Fremdenverkehr. Du wirst mich für ziemlich gefühllos halten.«
Sie schwieg einen Moment, bevor sie antwortete: »Standen sie dir sehr nah?«
Sein Cappuccino kam. Er trank einen Schluck und sagte dann: »Na ja, mit dem Xaver konnte man ja noch nie ein vernünftiges Wort reden. Die Anna war seit Jahren krank und auch immer mal wieder im Krankenhaus. Einmal haben wir sie in einem Altersheim untergebracht, aber nach ein paar Tagen ist sie derart renitent und aggressiv geworden, dass wir sie wieder abholen mussten. Also, wenn du’s genau wissen willst: Die Situation war schon extrem schwierig. Aber so ein Ende … Das ist einfach grauenvoll. Warum hat er das nur getan? Einfach so. Aus heiterem Himmel.«
Anja sagte nichts und wich seinem Blick aus. Lukas schaute zur Uhr.
»Termine?«, fragte sie.
»Ja. Ich muss nach Kleinbruck, wegen der Beisetzung. Außerdem gibt es noch jede Menge Formalitäten in Weiden zu regeln.«
»Weiden«, sagte sie spontan. »Da muss ich nachher auch noch hin.«
»Ah ja«, rief er freudig. »Soll ich dich mitnehmen?«
»Nein, nein. Danke für das Angebot. Aber ich fahre lieber selbst. Mein Termin ist erst gegen Mittag, und vielleicht mache ich dann noch ein paar Besorgungen. Später gehe ich sicher auch noch im Büro vorbei. Was hast du mir denn geschrieben?«
Lukas sah sie einen Moment lang verwirrt an. »Ach so«, rief er dann lachend. »Na ja, dass ich dich sehen wollte, um dir meine Bestürzung mitzuteilen, und dass ich dich gerne treffen würde. Und meine Telefonnummer. Die hast du also jetzt. Wie lange bleibst du denn bei uns?«
»Bis Ende September«, antwortete sie. »Noch drei Wochen also.«
Lukas zückte seine Geldbörse.
»Lass mal«, sagte Anja. »Ich bleibe noch ein wenig hier, und deinen Cappuccino kann ich schon übernehmen.«
»Kommt gar nicht in Frage«, protestierte er.
»Doch«, gab sie ruhig zurück. »Du kannst dich ja mal revanchieren.«
Einen Moment lang sagte keiner der beiden etwas. »Na, das ist ein Angebot, das ich akzeptieren kann«, fuhr er dann aufgeräumt fort. »Wann bist denn frei? Heute Abend?«
Sie lächelte. »Wir finden schon eine Gelegenheit, Lukas. Lass uns telefonieren, okay?«
Er schien nicht sonderlich glücklich über diese Wendung, steckte jedoch seinen Geldbeutel wieder ein. »Ich habe aber keine Nummer von dir.«
»Die brauchst du auch nicht. Ich habe ja deine.«
»Ach
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