Schweigend steht der Wald: Roman (German Edition)
Marktplatzcafé. Sie sah sich kurz um, als sie es betrat, aber niemand beachtete sie. Sie wählte einen Platz in der Ecke, bestellte ein kleines Frühstück und las den Zeitungsbericht.
Er war sachlich richtiger, als es die geflunkerte Bildunterschrift hätte erwarten lassen. Sie erfuhr, dass Anna Leybach einundachtzig Jahre alt und seit Jahren krank gewesen war. Xaver wurde als Sonderling bezeichnet, der in der Gegend zwar bekannt, sein Lebtag jedoch niemals durch Gewalttätigkeit oder gefährliches Verhalten aufgefallen sei. Von der Familie der beiden Verstorbenen habe sich gestern niemand äußern wollen. Nachbarn und Ortsansässige aus den umliegenden Dörfern, die Xaver Leybach seit vielen Jahren kannten, hatten sich übereinstimmend fassungslos über den Vorfall geäußert. Allenthalben herrschte der Eindruck vor, dass es sich um einen jener unerklärlichen Amokläufe handeln müsse, wie sie leider immer häufiger vorkämen, nicht nur in den immer gewalttätiger werdenden Großstädten, sondern allmählich sogar in kleinen und friedlichen Gemeinden wie Faunried. Die Tendenzen der Zeit machten eben nirgendwo halt.
»Anja?«
Sie fuhr zusammen und schaute auf. Ein junger Mann stand etwa einen Meter von ihrem Tisch entfernt und sah sie an.
»Anja Grimm?«, wiederholte er.
»Ja«, antwortete sie argwöhnisch. Nun hatte sie also doch ein Reporter gefunden, dachte sie zunächst. Aber ein Reporter würde sie ja wohl nicht mit dem Vornamen ansprechen. Auf jeden Fall war der Mann nicht von hier. Er trug Anzug und Krawatte unter einem eleganten Markenanorak, den er gewiss nicht in Waldmünchen gefunden hatte.
»Ich bin’s. Lukas. Lukas Gollas.«
»Lukas«, wiederholte sie überrascht und griff nach kurzem Zögern nach seiner Hand, die er ihr entgegenstreckte.
»Darf ich mich setzen?«
»Äh, ja, sicher. Bitte.«
Er zog seinen Anorak aus und ließ sich ihr gegenüber am Tisch nieder. Der Duft seines Rasierwassers wehte zu ihr herüber. Er lächelte, musterte sie einige Sekunden lang und sagte: »Der Anlass könnte ja nicht unpassender sein, aber du kannst dir nicht vorstellen, wie sehr ich mich freue, dich wiederzusehen.«
Anja war sprachlos. Das war Lukas Gollas? Der kleine Junge, mit dem sie im Heuschober herumgetollt hatte. Ruperts Bruder? Sie brauchte einige Momente, um sich von der Überraschung zu erholen. Lukas nutzte die Gelegenheit, um zu erklären, wie er hergekommen war.
»Ich bin erst seit ein paar Stunden wieder in Faunried. Als ich gehört habe, was passiert ist, und Vater mir erzählt hat, dass ausgerechnet du ihn gefunden hast, da habe ich mir gedacht: Das kann doch nicht wahr sein. Ich bin gerade aus Regensburg hergefahren. Vater hat mir gesagt, dass du in Waldmünchen arbeitest. Er hat mir dein Foto in der Zeitung gezeigt. Im Forstamt warst du nicht. Grossreither meinte, du würdest heute nicht kommen. Wo du wohnst, hat er mir nicht sagen wollen. Na ja, da habe ich dann halt nur eine Nachricht für dich hinterlassen. Jetzt wollte ich einen Kaffee trinken, bevor ich nach Faunried weiterfahre. Und da sitzt du.«
Sie spielte verlegen mit ihrer Kaffeetasse und wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie empfand seine Spontaneität und Offenheit als sympathisch. Aber die ganze Situation überforderte sie ein wenig.
»Ja«, sagte sie nach einer peinlichen Pause und lächelte unbeholfen. »Da sitze ich.«
»Ich bin fassungslos«, fuhr er fort. »Wir alle sind es, Anja. Du kannst dir nicht vorstellen, wie uns das alle erschüttert. Nicht nur, was Xaver getan hat. Das an sich ist schon ungeheuerlich. Aber dass … dass ausgerechnet du ihn gefunden hast. Ausgerechnet. Nach allem, was dir hier widerfahren ist. Das … das ist unerträglich. Es tut mir so leid. Das wollte ich dir einfach gleich sagen. Das ist …« Er beendete den Satz nicht und schien nach dem richtigen Wort zu suchen.
»Schicksal?«, ergänzte sie.
Das Wort schien ihm nicht zu gefallen. »Nein«, sagte er trotzig, fand aber auch nach einigem Suchen kein besseres.
Sie lächelte. »Danke, Lukas. Es ist nett von dir, dass du gekommen bist. Bis eben war ich in ziemlich trüber Stimmung.«
Seine Miene hellte sich auf. »Ich bin so neugierig. Wie kommt es, dass du überhaupt hier bist? Vater hat gesagt, du arbeitest hier?«
»Nur ein paar Wochen. Ich studiere Forstwirtschaft und muss ein Praktikum machen. Die brauchen zurzeit überall Leute zum Kartieren. Und da dachte ich, warum nicht hier?«
Sie sah ihn an. Er wollte etwas sagen,
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