Schweigend steht der Wald: Roman (German Edition)
kannst du hier dein Naturhotel mit Ökowald aufziehen, und ich mache den Hausmeister. So etwa sah Rupert die Situation. Und wenn schon. Lukas hatte keine Lust, die ganzen alten Diskussionen wieder mit ihm zu führen. Durch die neue Lage erübrigte sich vieles. Alles war so kompliziert gewesen. Jetzt ging es nur noch darum, den Zeitpunkt abzuwarten, bis sie Alois Leybach für tot erklären konnten, was nächstes Jahr der Fall sein würde, denn dann waren die fünf Jahre seit Antragstellung vergangen, und der Wald würde endlich ihnen gehören. Wozu also weitere Diskussionen?
Ihn beschäftigten andere Dinge. Er dachte die ganze Zeit an Anja. Wie mochte es ihr jetzt gehen? Was für eine rätselhafte Verkettung von Umständen! Ob sie ihn anrufen würde? Falls nicht, müsste er wohl noch mal bei ihr im Büro vorbeifahren. Oder konnte er sie sonst irgendwie treffen? Der Gedanke an sie beflügelte ihn. Welch unglaublicher Zufall! Die Umstände konnten ja schrecklicher kaum sein, aber er vermochte an nichts anderes zu denken, als sie bald wiederzusehen. Er fühlte sich fast wie damals, als der VW Käfer ihrer Eltern in den Sommerferien bei ihnen auf den Hof gerollt war. Schon Anjas Eltern hatte er toll gefunden, diesen Vater mit Pferdeschwanz und runder Brille, groß und schlaksig, fast ein Hippie. Anjas Mutter hatte er oft fasziniert beobachtet mit ihren langen, selbstgewebten Kleidern. Im Rückblick hatten die beiden wie ein Liebespaar aus Woodstock ausgesehen. Und dann Anja. Ihre Tochter. Wie ein bunter Engel war sie ihm erschienen, so völlig anders als die Kinder hier im Dorf. Sie hatten ja immer Feriengäste gehabt, aber an die beiden Sommer mit Anja erinnerte er sich am intensivsten. Er war schon damals in sie verliebt gewesen.
Und dann diese Katastrophe. Auch das hatte er nie vergessen. Wie sie von ihren Großeltern abgeholt wurde, um nach München zurückzufahren, während ihre Mutter noch tagelang vor Ort blieb, um zu warten und zu hoffen, dass die Polizei ihren Mann im Wald wiederfinden würde. Viele Eindrücke und Erinnerungen aus dieser Zeit waren mit der Zeit verschwommen. Aber das Bild der achtjährigen Anja im Auto, die mit leergeweinten Augen auf dem Rücksitz saß, den Kopf noch einmal zu ihm hinwandte und trotz allem gewinkt hatte – das sah er immer noch vor sich. Er dachte oft an sie, aber niemals hätte er es gewagt, Kontakt zu ihr aufzunehmen. Es wäre ihm unanständig vorgekommen. Musste sie nicht zwangsläufig alles hassen, was sie an Faunried erinnerte? Aber jetzt war sie gekommen.
»Mit wem hast du eigentlich so lange telefoniert?«, wollte Waltraud von ihrem Mann wissen.
»Mit Dallmann«, antwortete er und aß weiter.
Rupert horchte auf, sagte aber nichts.
»Dallmann?«, wiederholte Waltraud verwundert. »Gustav Dallmann? Ist der noch im Dienst?«
»Nein. Schon lange nicht mehr.«
»Und was wollte er?«, fragte jetzt Rupert.
»Na was schon. Kondolieren. Wie alle, die hier anrufen.«
Dallmann, dachte Lukas verwundert. Der Mann war vor ein paar Jahren mit Pomp und Getöse aus dem Polizeidienst in den Ruhestand verabschiedet worden. Er erinnerte sich allerdings vor allem deshalb an ihn, weil Dallmanns Sohn Konrad mit Rupert zur Schule gegangen war. Konrad war einer der wenigen gewesen, der Rupert kräftemäßig Paroli bieten konnte, und so hatte der Name Dallmann einige Jahre lang unweigerlich mit Platzwunden und blauen Augen seines Bruders in Verbindung gestanden. Irgendwann war der Spuk vorüber gewesen. »Der muss doch heute schon weit über siebzig sein«, bemerkte Lukas.
»Dreiundsiebzig«, korrigierte sein Vater. »Aber ungelöste Fälle lassen diese Polizisten ja niemals los.«
»Ich dachte, er wollte kondolieren?«, fragte Rupert argwöhnisch. »Was wollte er denn wissen?«
Franz Gollas kaute auf einem Stück Brot, das er zuvor in die Suppe getunkt hatte. »Alles Mögliche. Er hat gefragt, ob wir gewusst hätten, dass diese Anja Grimm hier arbeitet.«
»Und? Was hast du ihm geantwortet?«
»Natürlich wussten wir das nicht. Sonst wäre das alles ja wohl nicht passiert.«
Lukas blickte verwirrt um sich. »Aha. Und wieso?«
»Ganz einfach«, fuhr Waltraud Gollas dazwischen. »Weil ich schon dafür gesorgt hätte, dass sie dem Xaver keinen solchen Schreck einjagt, so dass er …« Sie beendete den Satz nicht, sondern starrte nur mit zitternden Lippen vor sich hin.
Lukas legte seine Gabel auf dem Teller ab. Niemand sprach. Marga beugte sich zu ihrer Tochter hin und flüsterte
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