Schweigend steht der Wald: Roman (German Edition)
Materialwirtschaft. Lohnabrechnungen. Die Ordnergruppe, die sie interessierte, stand unweit des Kellerfensters. Es waren die jährlichen Hiebsvollzüge. Anja blätterte die Jahrgänge des betreffenden Jahrzehnts durch und überflog die Liste der gemeldeten Einschläge. 1975 war im Haingries nichts gefällt worden. 1976 waren hie und da ein paar kranke Stämme entfernt worden, aber nirgendwo fand sich eine Eintragung, die nach Art und Umfang dem entsprach, was die Rodung und Einrichtung dieser Wildwiese an Festmetern ergeben hätte. 1977 war ein wenig Schneebruch verzeichnet. 1978 wieder so gut wie nichts. Aber im Folgejahr gab es einen Wert, der passen könnte. Die Lage der Polter war aufgelistet.
Anja nahm ein Blatt Papier zur Hand und notierte sich die wichtigsten Informationen: die Anzahl der Festmeter, die Holzart und -qualität und die Lagedaten. Sie blätterte um und stieß auf weitere Dokumente. Obenauf lag die Kopie einer Mannstundenabrechnung für sechs Waldarbeiter. Der Eingangsstempel datierte vom 17. Oktober 1979. Es folgten die üblichen Papiere über Antragsteller, Waldbesitzer und weitere erforderliche Informationen.
Anlass der Rodungsarbeiten: Anlegen einer Wildwiese
Genehmigungspflichtig: Nein (Privatwald)
Anzeigepflichtig: Ja
Anzeige erfolgt am: 03. September 1979
Durchführung der Maßnahme:
27. September – 14. Oktober 1979
Kostenverteilung: Antragsteller 100%
Kosten für die Gemeinde: –
Besondere Bemerkungen: –
Ihr Blick schweifte suchend über das Blatt, bis sie die Rubrik gefunden hatte, die sie noch interessierte.
Antragsteller: R. Heinbichler – Jagdpächter.
Anja schlug die Akte wieder zu, schob sie in das Regal zurück und betrachtete ratlos ihre Notizen. Dann rechnete sie. Ihr Vater verschwand am 21. August. Die Suchaktion zog sich über mehrere Wochen hin. Der Haingries war in genau diesem Zeitraum gerodet worden. Sie blickte niedergeschlagen auf ihre Notizen. Ihr Magen zog sich schmerzhaft zusammen. Die Möglichkeit, dass ihr Vater irgendwo unter dieser Wiese begraben lag, löste sich in Luft auf. Es war undenkbar, dass man ihn im Rahmen solch massiver Rodungs- und Grabungsarbeiten nicht gefunden hätte.
Sie schloss die Metalltür zum Archivraum ab, kehrte in ihr Büro zurück und setzte sich erschöpft und niedergeschlagen zurück an ihren Schreibtisch. Erst dann bemerkte sie das gefaltete Blatt in ihrer Postablage.
Liebe Anja,
ich habe heute erst erfahren, was geschehen ist, und bin fassungslos. Es tut mir so leid. Ich wollte Dich aufsuchen, aber Du warst nicht im Büro. Bitte rufe mich an. Ich möchte Dich gerne wiedersehen.
Lukas
Darunter stand eine Mobilfunknummer.
Ach ja, Lukas war hier gewesen. Die Nachricht tat ihr gut. Sie schaute auf ihren Notizzettel, wo sie die Einschlagsmengen und Polternummern von 1979 vermerkt hatte. Sie dachte an Xaver, wie er in den Wald davongestapft war. Dallmann hatte wohl recht. Ihre Phantasie war mit ihr durchgegangen. Sie hatte etwas herbeigewünscht, was unwiederbringlich verloren war, und unwissentlich vielleicht sogar einen Amoklauf ausgelöst.
Plötzlich überkam sie das Verlangen, mit Lukas zu sprechen. Vielleicht sollte sie doch mit ihm zu Abend essen oder wenigstens ein Glas Bier trinken. Vielleicht war er ja in der Gegend und hatte auch nichts vor? Sie tippte seine Nummer. Doch noch bevor der Klingelton ertönte, überkamen sie Skrupel, und sie brach den Anruf wieder ab. Sie nahm ihren Notizzettel mit den Polternummern, zerknüllte ihn und warf ihn in den Papierkorb. Dann löschte sie das Licht und verließ das Büro.
17
D er Abendbrottisch war bereits gedeckt, als Lukas das Haus betrat. Marga hatte die sechsjährige Annelie auf dem Schoß. Das Mädchen hielt ihr eine kleine Puppe mit Knetbrocken im Haar hin. Sein Vater war am Telefon, lauschte schweigend und sagte nur manchmal: »Ja, ja.« Rupert war nirgends zu sehen. Seine Mutter stand an der Küchenspüle und wusch sich die Hände. Ihre Wangen waren gerötet, und es war offensichtlich, dass sie auch erst vor wenigen Minuten hereingekommen war.
Er murmelte »Guten Abend«, was von niemandem erwidert wurde. Er zog seinen Anorak aus, schob sich an seinem Vater vorbei, der noch immer am Telefon hing, beugte sich zur kleinen Annelie hinunter, gab ihr einen Kuss und studierte das Puppenproblem, auf das sie ihn sofort hinwies.
Dann kam Rupert herein. »Hallo, Lukas«, sagte er.
»Hallo.«
»Essen ist fertig«, ließ sich Traudel vernehmen.
Fünf Minuten
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