Schweigend steht der Wald: Roman (German Edition)
später saßen alle am Tisch. Franz Gollas am Kopfende hielt die Hände gefaltet, während Waltraud neben ihm das Tischgebet sprach. Lukas saß am gegenüberliegenden Ende vor einem Teller, der nicht zum Service passte, was ihn jedoch nicht störte. Er fand es sogar passend. Schließlich empfand er sich selbst nur noch als ein von Zeit zu Zeit geduldeter Tischgast.
Ruperts Frau Marga und die kleine Annelie lauschten dem Gebet mit gesenkten Blicken, während Rupert nicht einmal so tat, als bete er. Er saß einfach nur zurückgelehnt da, wartete missmutig, bis seine Mutter geendet und sich bekreuzigt hatte, und sagte dann ohne die geringste pietätvolle Pause: »Na dann können wir ja endlich essen«, und griff auch gleich zur Suppenkelle.
Lukas nahm schnell Annelies Teller und hielt ihn demonstrativ seinem Bruder hin, so dass der keine Wahl hatte und seine kleine Tochter zuerst bedienen musste.
»Wie läuft es mit dem Ausräumen?«, fragte Franz Gollas nach einer Weile. Lukas wunderte sich, dass ausgerechnet sein Vater auf das zu sprechen kam, woran alle um den Tisch zweifellos unablässig dachten, ohne dass es jemand ausgesprochen hätte.
»Gut«, erwiderte Waltraud, ohne von ihrem Teller aufzusehen. »Wir werden noch ein paar Tage brauchen, aber wir haben schon einiges geschafft. Lukas, hast du die Einladungen für die Trauerfeier bestellt?«
Lukas schüttelte den Kopf, nahm noch einen Löffel Suppe zu sich und sagte dann: »Auf dem Friedhof von Kleinbruck wollen sie den Xaver nicht nehmen.« Ein empörter Blick seiner Schwägerin ließ ihn wieder verstummen. Wahrscheinlich hatte sie recht. In Gegenwart eines kleinen Mädchens musste man wohl nicht erörtern, ob man Selbstmörder in geweihter Erde bestatten durfte oder nicht. »Ich kümmere mich morgen darum. Es wird schon eine Lösung gefunden. Es bleibt jedenfalls bei Mittwoch.«
Er warf einen Blick auf seine Mutter und versuchte aus ihren Zügen herauszulesen, was sie empfand. Er war sich sicher, dass von allen Gefühlen ein einziges alle anderen überwog: Scham und Schande. Sie waren jetzt eine Familie, in der es einen Mörder gab. Für sein eigenes Leben änderte das nicht viel. Er lebte schon lange nicht mehr in dieser kleinkarierten Welt hier. In Regensburg hatte natürlich auch eine kurze Meldung über den Vorfall in der Zeitung gestanden. Aber er brauchte sich keine Sorgen zu machen, dass es die Menschen lange beschäftigen würde. In seinem Bekanntenkreis wusste niemand, dass Anna L. seine Großmutter und Xaver L. sein Onkel gewesen war. Schon über seine Familie, die hier am Tisch saß, sprach er in Regensburg so gut wie nie. Und Xaver und Anna waren Menschen, die in seinem Leben schon seit Jahren keine Rolle mehr gespielt hatten. Sein Leben fand woanders statt. Mit Anfang zwanzig war er nach Weiden gezogen. Zurzeit wohnte er in Regensburg. Irgendwann würde er nach München oder Wien gehen, nur immer weiter weg von hier, in die Stadt.
Jetzt hatten sie endlich den Wald. Der Gedanke war ihm fast unangenehm, denn die jahrelange Streiterei mit Xaver auf diese Art und Weise erledigt zu sehen war natürlich das Letzte, womit er gerechnet hatte. Dass Anna nicht mehr lange leben würde, war abzusehen gewesen. Und danach hätte niemand mehr Rücksicht auf Xaver genommen. Das war ausgemacht. Ihn zu Lebzeiten Annas zu entmündigen und in eine Anstalt einzuweisen, hatten sie mehrfach erwogen und dann verworfen. Anna zuliebe. Denn dann hätte auch sie in einem Heim untergebracht werden müssen. Im Grunde war Xavers Wahnsinnstat ein Gottesgeschenk für sie alle. Oder vielleicht nicht? Er blickte um den Tisch herum. War er der Einzige, der so dachte? Annas Ende war entsetzlich. Aber war ihr Leben nicht noch weitaus entsetzlicher gewesen? Dieses Dahinsiechen in einem abgedunkelten Raum in einem feuchten Weilerhof mitten im Wald? In einem Haus, in dem außer ihrem gestörten Sohn niemand mehr hatte leben wollen, nicht einmal ihr Mann?
»Hat schon jemand eine Idee, wie es jetzt weitergehen soll?«, fragte Lukas.
Niemand antwortete. Lukas schaute von einem zum anderen.
»Darüber können wir nächste Woche reden«, sagte Franz Gollas. »Erst einmal bringen wir diese furchtbare Sache zu einem würdigen Abschluss.«
Schweigen erfüllte den Raum. Lukas spürte, dass Rupert zu ihm hinsah, und schaute kurz in seine Richtung. Er wusste sehr gut, warum sein Bruder ihm diesen lauernden Blick zuwarf. Jetzt hast du ja endlich, was du willst, schien er ihm zu sagen. Jetzt
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