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Schwein gehabt

Schwein gehabt

Titel: Schwein gehabt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Springenberg/Michael Bresser
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Dreiviertelstunde vergangen und Wilpert sagte so etwas wie »Der Herr sei mit euch« und »Erhebet die Herzen«. Erneut zückten die Gläubigen ihr Gesangbuch. Ich haute in die Tasten. Nach zehn Sekunden schrie Wilpert zu mir hoch: »Halt, aufhören, sofort !«
    Die Orgel verstummte.
    »>Sie spielen das Agnus Dei< — jetzt kommt aber erst >Hosianna< .«
    Das hörte sich lateinisch an.
    »Wie bitte? Ich habe Sie nicht verstanden, Herr Pastor !« , rief ich zurück.
    »Spielen Sie Nummer vierhundertfünfundneunzig, das Lied vierhundertsechsundneunzig kommt erst beim >Lamm Gottes< .«
    Selbst Schuld, wenn er so unleserlich schreibt. Nichtsdestotrotz schlug ich das Gesangbuch eine Seite zurück, und die Messe konnte ihren Fortgang nehmen. Bis zum Schluss passierte kein Missgeschick mehr und ich fand, dass ich meine Premiere als Organist gut gemeistert hatte. Dieser Ansicht war Pfarrer Wilpert nicht. Nach der Messe stauchte er mich zusammen. Ich hätte zu viele Strophen gespielt und die Einleitungen wären zu lang gewesen. Ich entgegnete ihm, dass ich dann ja wohl nicht mehr zu orgeln brauchte. Da wurde er freundlich und sagte, ich wäre viel besser als mein Onkel und beim nächsten Mal würde sicher alles hervorragend funktionieren. Daraufhin wies ich ihn an, die Liedernummern künftig mit der Schreibmaschine zu tippen, und machte mich vom Gottesacker.
    Nach dem Gottesdienst wollte ich schleunigst das Weite suchen, um nicht Schwätzer Julius in die Arme zu laufen. Ich war schon mit einem Bein im Golf, als jemand aus dem Menschenpulk vor der Kirche lauthals meinen Namen brüllte: »He, Nannen, warte mal ’n Moment !«
    Eine zerrissene Lederhose bahnte sich ihren Weg durch Sonntagsanzüge und Pelzmäntel.
    »Waren wir nicht zu einer Session verabredet ?« Julius schob seine Sonnenbrille auf die Stirn und wartete auf eine bejahende Antwort.
    »Oje, das hab ich total verschwitzt. Leider habe ich keine Zeit .«
    »Ach, komm. Eine Stunde wirst du schon erübrigen können. Außerdem schuldest du mir was .«
    Er hob den Daumen, um mich an seine großzügige Beförderungsaktion zu erinnern. Wahrscheinlich würde mich die Viertelstunde Autofahrt in Kürze sowohl meine Nerven als auch mein Gehör kosten.
    »Na schön. Wo probt ihr ?«
    »Im Keller des Gemeindezentrums. Lass uns runtergeben. Die andern warten schon .«
    Ich schloss die Wagentür und folgte Julius zum Übungskeller. Meine Hoffnung, es wäre kein Keyboard vorhanden, erwies sich als vergeblich. In der Ecke stand eine Heimorgel, wie Opas sie ihren Enkeln zu Weihnachten schenkten.
    Die Probe war in vollem Gange. Der Bassist spielte ein einfaches, aber druckvolles Riff, worüber die Gitarre ein ekstatisches Solo improvisierte. Der Schlagzeuger unterlegte das Ganze mit einem Rhythmus, der an indianische Opferzeremonien erinnerte. Das Resultat war eine ausgesprochen hörbare Mischung und besser als alles, was meine Essener Band je zustande gebracht hatte. Ich setzte mich an die Orgel und spielte einige lang gezogene Dissonanzen. Der Bassist nickte mir beeindruckt zu. Aus den Augenwinkeln beobachtete ich, wie Julius sich zwei Tabletten einwarf und sich auf dem Boden niederließ. Wie auf Kommando schluckten auch der Schlagzeuger und der Bassist eine Pille und machten anschließend umso heftiger weiter. Mir war völlig egal, dass hier offensichtlich XTC oder Ähnliches konsumiert wurde, schließlich waren die Jungs alt genug und die Musik nahm keinen Schaden. Gegen Ende des Songs attackierte der Drummer seine Toms besonders intensiv und stoppte dann abrupt. Lange, blonde Haare fielen ihm bis in den Nacken. Er trug einen Pullover, auf dem in verschnörkelten Buchstaben Judge aufgedruckt war.
    Er blickte in meine Richtung. »He, du spielst ja einen heißen Reifen. Ich bin übrigens der Heiner .«
    Seine Mitmusiker stellten sich als Thomas und Benedikt, ich mich als Dieter vor.
    »Das war unser neuester Song. Was hältst du davon ?«
    »Gefällt mir .«
    Wir jammten noch eine Weile vor uns hin, dann verabschiedete ich mich mit dem Versprechen, am nächsten Sonntag wieder vorbeizuschauen.

16

    Z u Hause angekommen entzündete ich den Kohleofen, brühte eine Kanne Kaffee auf, postierte Zigaretten, Streichhölzer, eine Tasse mit handgemaltem Blumendekor und das Notizbuch auf dem Küchentisch und ließ mich in den abgewetzten Sessel fallen.
    Ich blickte aus dem Fenster. Eine weiße Nebelwand verschleierte die umliegenden Felder und entzog sie der menschlichen Betrachtung. Das war

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