Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schweizer Ware

Schweizer Ware

Titel: Schweizer Ware Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roger Aeschbacher
Vom Netzwerk:
den Code sofort. Er kannte diese Zahl 276 nur zu gut. Es waren die ersten drei Ziffern der Telefonanschlüsse im Kantonsspital. Er selbst hatte solche Nummern gehabt. Zuerst auf der Intensivstation. Dann auf seinem Einzelzimmer in der Chirurgie. Schließlich auf der Orthopädie. Jedes Mal hatte er eine neue Nummer bekommen, alle begannen mit 276 und jede war eine Wegmarke auf seinem Weg zur Heilung. Sie zeigten an, welche Fortschritte er gemacht hatte. Zuerst die Schlagader geflickt. Dann der Knochen verleimt. Dann die Rehabilitation.
    Baumer betrachtete die Nummern hinter den Namen von ein paar Frauen. Sie zeigten andere Meilensteine an. Es waren Marken auf einem Weg, der zuerst sanft, dann immer steiler werdend und ohne große Umwege in die feuchte Grube führt. Auf ihnen stand: Untersuchung; Diagnose Krebs; Chirurgie; Rückfall; Sterbezimmer.
    Der Kommissar erinnerte sich an die kleinwüchsige, aber energische Helen Amadio-Meier. Er sah sie plötzlich vor sich als blutjunge Hélène in Fribourg. Wie sie mit ihrem Schatz – François? – in Fribourg auf den Tanz geht. Wie die Kleine ihren großen Ami mit dem würzigen Eau-de-Cologne mit beiden Händen um den Hals greift und sich dazu strecken muss. Eine Kletterin in der Eiger-Nordwand, die sich nach der nächsten Griffmöglichkeit streckt. Wie sie sich dann beim Tanz dreht und lacht und gluckst und kreischt und ewig lebt. »Tja, Baumi«, sagte Helen Amadio zu Andi Baumer, »das glaubt keiner, dass es so schnell gehen wird.«
    Andreas Baumer stand gedankenverloren im Raum. Er sah die kleine Frau immer noch vor sich stehen. In ihrem Blick erkannte er Spott und Schalk zugleich. Er drehte sich weg, wollte der Erinnerung ausweichen. Er sah zum Tisch hin, doch erneut sah er Helen Amadio, wie sie an eben dieser Stelle saß, grad so, wie sie bei ihm am Krankenbett gesessen war.
    »So, jetzt muss ich aber weiter, Herr Baumer«, bemerkte die alte Frau. »Ich habe noch so viele Freundinnen hier im Spital. Die warten schon auf meine Wenigkeit. Hi, hi. Also dann …« Die Alte erhob sich, indem sie sich weit nach vorn beugte, den Kopf hatte sie beinahe zwischen den Knien versenkt. Die Arme hatte sie nach hinten gelegt, wie ein Skispringer auf der Schanze. So im tiefen Gleichgewicht steckend, sah sie aus, als ob sie sich unterwürfigst vor einem König verbeugen möchte. Dann gab sie sich einen Ruck und wuchtete sich in einer einzigen graziös koordinierten Bewegung hoch. Aufrecht stehend pustete sie mit zwei Atemzügen die Anstrengung weg, die diese Höchstleistung des Aufstehens sie gekostet hatte, und meinte, immer noch ein wenig um Luft ringend: »Hat mich sehr gefreut. Also auf Wiedersehen, auf Wiedersehen!«
    Sie winkte. Dann ging sie aus dem Zimmer, diese Abschiedsgeste noch zweimal wiederholend.
    Plötzlich schob sich das Gesicht von Stefan Heinzmann vor Baumer. »Andi, wo bist du?«, fragte der Wachtmeister.
    »Was, wo?«, fiel Andi aus seinem Tagtraum.
    »Träumst du?«
    »Hmh … Ja.«
    »Was machen wir jetzt? Gibt es hier noch was zu tun?«
    »Fahr mich ins Spital.«
    »Ins Spital?«
    Baumer nickte.
    »Kein Kaffee?«
    »Kein Kaffee.«
    »Hast du eine Spur?«
    Baumer sagte nichts.
    »Du hast doch eine Spur.«
    Baumer brummte. Dann nickte er.

6
    Der rekonvaleszente Andreas Baumer stand vor der automatischen Schiebetür des Kantonsspitals Basel. Heinzmann hatte ihn an der Pforte ausgeladen und noch geschaut, dass er sicher auf die Beine gekommen war. Dann war er langsam die sanft gebogene Rampe hinuntergerollt. Der Kommissar hatte seinen Freund überzeugt, dass er ihn nicht weiter brauchte. Nun stützte er sich auf seine Krücken und das eine gesunde Bein. Mit dem Rücken zum Eingang schaute er dem Streifenpolizisten nach, wie dieser unten an der Straße hielt, den Blinker setzte und dann nach rechts abbog, in Richtung des Polizeistützpunktes Spiegelhof in der Innerstadt. Dort würde er eine Mütze voll Schlaf nehmen können.
    Plötzlich stoppte Stefan Heinzmann. Er schaltete das Blaulicht an und wendete. Nun fuhr er in die entgegengesetzte Richtung davon. Er ließ das Signalhorn leben, preschte an der glasgrünen Krankenhausapotheke vorbei und bog Richtung Johanniterbrücke rassig ab. Dann war er hinter der Häuserzeile verschwunden. Die Junkies, die bei der Spitalapotheke angestanden waren, um ihre Ration Methadon zu erhalten, waren, als sie die Polizeisirene hörten, auseinandergestoben, als wären sie Fliegen, die vom Schmaus an einem leckeren Kadaver

Weitere Kostenlose Bücher