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Schweizer Ware

Schweizer Ware

Titel: Schweizer Ware Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roger Aeschbacher
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vollem Namen bekannt gegeben, sondern mit ihren Initialen. Entweder wollte man die Privatsphäre der Patienten schützen oder man wollte es Dieben nicht so einfach machen, ältere Kranke zu überrumpeln, indem diese ihre Opfer herzlich und überschwänglich mit ihrem Namen ansprechen und bequatschen konnten. Wahrscheinlich tat man es aus beiden Gründen.
    Baumer schaute voraus. Da vorne, eines dieser Zimmer musste es sein.

    316.

    318.

    Die Tür stand zur Hälfte offen. Natürlich schaute Baumer im Vorbeigehen kurz hinein. Im Bett lag ein etwa 35-jähriger, feister Mann, dessen Oberkörper mit zwei Kissen aufrechter gesetzt worden war. Um ihn herum waren ein halbes Dutzend Besucher aller Altersklassen drapiert. Eine Frau mit gewelltem schwarzen Haar, es musste ganz einfach die Mutter des Kranken sein, saß bei ihm auf der Bettkante. Sie fütterte ihren Sohn, indem sie ihm mit einem riesigen Löffel Nahrung in den Mund schob. Die zumeist älteren Besucher und auch die Kinder schauten dabei aufmerksam zu.
    Baumer hatte dieses Tableau mit einem Blick erfasst und in seinem Bauch versenkt. Dort schlug es auf, als hätte er einen Pflasterstein verschluckt. Wie erniedrigend es doch ist, Patient zu sein, dachte er.

    Wusste er.

    Sechs Schritte weiter – Baumer machte immer noch kleine, sorgsame Schritte – stand er vor dem Zimmer mit Nummer 320. Die Initialen S. R. standen auf dem Türschildchen.
    Sophia Rüdiger. Baumer klopfte.

    Keine Antwort.

    Nach ein paar Anstandssekunden nahm Baumer beide Gehstöcke in die eine Hand und drückte die Klinke hinunter. Er schob die Tür auf und ging ins Zimmer. Weil er das verletzte Bein immer noch nicht voll belasten durfte, hüpfte er dabei mehr auf einem Bein hinein, als dass er normal ins Zimmer schritt.
    Ein irres Gemisch an Gerüchen empfing ihn, das ihn unweigerlich flacher atmen ließ. Es roch penetrant nach Reinigungs- und Desinfektionsmitteln, die mit ihren billigen ätherischen Ölen gegen einen fauligen Geschmack ankämpften. Ein scharfer Essiggeruch ritt aus einem Hinterhalt scharfe Attacken. Die aufgedrehte Heizung trieb die Dünste noch schärfer in die Nase.
    Im Raum stand nur ein einzelnes Spitalbett mit dem üblichen Galgen und der Klingel am einen und dem Gitterrost am anderen Ende. Die Matratze war von der Hydraulik weit nach oben gehoben. Auf dem Bett selbst lag eine voluminöse Bettdecke, darunter eine sandbraune Plüschdecke, die akkurat um die Seiten der Matratze geschlungen war. Am Kopfende plusterte sich ein riesiges Kopfkissen auf.
    Baumer schloss die Tür, immer noch auf einem Bein hüpfend. Dann nahm er die Stöcke wieder in beide Hände und ging vorsichtig – ehrfürchtig? – auf das Bett zu. Es schien beinahe, als ob niemand darin läge. Den Körper unter der Wolldecke konnte man kaum erahnen, so wenig zeichnete er sich durch das darauf liegende Duvet hindurch ab. Auch einen Kopf konnte Baumer noch nicht erkennen, da er sich tief in das Kopfkissen drückte. Er trat näher an das Gestell heran. Jetzt sah er den Kopf tief in der Mitte des Kissens liegen. Durch das Gewicht war es an den Seiten aufgebläht. Die Augen waren geschlossen, die Atmung sanft und leise.
    Baumer betrachtete das Gesicht. Es musste Sophia Rüdiger sein. Wissen konnte er es nicht. Es war einfach eine greise Figur, die hier schlief. Ob es eine Frau oder ein Mann war, war schwer zu entscheiden. Die Farbe des Gesichtes war die von hellem Marmor an einer Außenfassade an viel befahrener Straße. Feinste Äderchen liefen durch die Haut, wie Adern durch den Marmorstein laufen. Sie gaben dem Gesicht eine filigrane Musterung. Den fast kahlen Kopf zierten nur wenige Haare. Sie waren grau und struppig – Borsten eines vor langer Zeit abgewetzten Besens.
    Die Stirn von Sophia Rüdiger trug mehrere ausfransende Flecken. Quer darüber liefen Furchen, als wären sie mit scharfem Pflug geschnitten worden, so tief, dass sie die Stirn als schwarze Linien querten. Die Augenhöhlen lagen im Schatten, unerreichbar für das Kunstlicht, das sich an hohen kantigen Stirnknochen brach. In den Höhlen lagerten die Augäpfel hinter geschlossenen Lidern. Der Nasenrücken war absurd hoch aufgerichtet, die Nase nur noch ein mit Pergamentpapier überzogener spitzer Schnabel. Marmorne Haut spannte über die Backenknochen, die wie die Hügelketten der Voralpen aufragten. Die Backen selbst waren eingefallen. Der Mund stand weit offen. Aus den verknitterten Lippen war jegliches Rot entschwunden. Das Kinn lag tief

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